Tobias Beckers Wahlkampfzentrale befindet sich in einem kleinen Haus in der US-amerikanischen Kleinstadt Sandy Hook. Das Zimmer ist spartanisch eingerichtet. Kommode, Fernseher, Markus-Söder-Buch auf dem Nachttisch. In der Ecke liegt eine Gitarre und über dem Bett hängen drei Fahnen: eine deutsche, eine bayerische und die unterfränkische.
Becker ist Teil des Parlamentarischen Patenschafts-Programms. Im Zuge dessen lebt der 18-Jährige ein Jahr bei einer Gastfamilie, geht in eine Highschool und soll das amerikanische Leben möglichst ungefiltert miterleben. Priorität hat aber gerade etwas anderes. Denn wenn er im Juni die 6200 Kilometer nach Karlstadt zurückfliegt, will Tobias Becker Stadtrat von Karlstadt sein.
Wie Tobias Becker Wahlkampf führt
Kommunalwahlkampf aus einem anderen Kontinent führen: dass wäre vor sechs Jahren schon ziemlich schwierig, vor zwölf Jahren sogar utopisch gewesen. Das zeigt, wie grundlegend sich der Wahlkampf verändert hat.
Als Becker auf WhatsApp anruft, ist er gerade aufgestanden. Hier bei uns geht die Sonne bald wieder unter. Sechs Stunden beträgt Zeitunterschied, was auch den Kontakt nach Zuhause schwierig macht. "In meinem Wahlkampf konzentriere ich mich auf Social Media", sagt Becker. Recht viel mehr bleibt ihm ja nicht übrig. Weil er mit den Karlstadtern nicht von Gesicht zu Gesicht sprechen kann, muss er es über Instagram tun. Die Wahlplakate ersetzt er durch Facebook-Werbeanzeigen. In der digitalen Welt versucht er das aufzuholen, was seine Mit-Kandidaten in der echten Welt vorlegen.
Als Becker seiner Familie vom Eintritt in die CSU erzählte, sei diese sehr überrascht gewesen, erzählt der Karlstadter. Seine Familie sei eigentlich nicht politisch. Trotzdem helfen sie ihm im Wahlkampf. Die 1000 Flyer, die er über sich hat drucken lassen, verteilen die Eltern. Das ist Beckers einzige Chance, auch im klassischen Wahlkampf auf sich aufmerksam zu machen. An Ständen in der Fußgängerzone wird er nicht sprechen können, auf den Wahlveranstaltungen der Karlstadter CSU ebenso wenig. "Zwar wird jeder Kandidat vorgestellt, auch ich. Dass ich nicht da bin, wird mich Stimmen kosten."
Visitenkarten zu verteilen, ist out
Geht man nach Thorsten Schwab, ist die Frage eh, wie effektiv diese Art von Wahlkampf noch ist. "Da sitzen meistens die eigenen Kandidaten drin. Die Mehrheit der Bevölkerung erreicht das schon lange nicht mehr", sagt der Landtagsabgeordnete und Bürgermeister in Hafenlohr. Schwab pendelt zwar zwischen München und seiner Heimatgemeinde, ist trotzdem irgendwie omnipräsent. Schwab erzählt, wie er mal eine Umfrage unter seinen Abonnenten gemacht habe, wie sie eingebunden werden wollen. "85 Prozent haben online gewählt, weil man nebenbei was mitkriegt und dadurch ohne großen Aufwand mitreden kann." Wo immer er ist, da hält Schwab die Kamera drauf. Fast 100 Videos hat er allein auf Facebook hochgeladen – das vom Besuch der Freizeitanlage Weed in Esselbach hat übrigens dreieinhalb Mal so viele Aufrufe wie der Besuch von Jean Claude Juncker.
"Ich muss aber auch aufpassen, dass ich alle gleich informiere", sagt er. Schon bei der Landtagswahl ist er deshalb mit Cappuccino-Mobil durch den Landkreis gefahren, bei der Kommunalwahl hieß das Format "Auf eine Tasse Kaffee". Als er angefangen hat, im Jahr 2002 war das, lieh er sich mit den 49 anderen Kandidaten für den Kreistag noch einen Reisebus und fuhr von Briefkasten zu Briefkasten. "Jeder hat einfach nur seine Visitenkarte eingeworfen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen."
Präsenz zeigen anstatt Plakate kleben
In diesem ganzen Wandel dürfe aber eins nicht zu kurz kommen: der Inhalt. In Lohr versucht Marc Nötscher dies zu ändern. Nötscher ist 22, gerade vier Jahre älter als Tobias Becker, und Ortsvorsitzender der SPD. "Über die vergangenen Wahlen ist man immer allgemeiner geworden und bemüht, nichts zu schreiben, was verärgern könnte", sagt er. Nötscher ist der Meinung, die dass die Leute merken würden, wenn man sich verstellt. Im Gespräch sagt er solche Dinge wie: "Plakate nerven doch inzwischen nur noch" oder "Wenn man ehrlich ist, schauen viele Flyer aus wie aus dem Kirchenjournal". Zwar haben sich die Sozialdemokraten noch nicht ganz von beidem verabschiedet – es hängen noch Banner und Flyer haben sie auch –, doch sie haben zwei Dinge versucht: zu kürzen und mit Inhalten zu überraschen.
Die Wahlkampf-Strategie der Lohrer SPD lässt sich wie eine persönlichere Mischung der von Thorsten Schwab und Tobias Becker zusammenfassen: Social Media für die Masse, das persönliche Gespräch für die Klasse. "Wenn die Leute eine Frage haben, können sie immer auf mich zukommen", sagt Nötscher. Was hinter der scheinbar so simplen Formel steckt, ist harte Arbeit. "Wir haben vor einem Jahr mit der Planung angefangen. Jetzt ist der Wahlkampf ja eigentlich schon vorbei." Trotzdem beantwortet Nötscher jeden Tag eine Stunde lang Mails. Dazu kommen die ganzen Treffen, Wahlveranstaltungen und "1000 Kleinigkeiten, mit denen niemand rechnet". Es sei Stress, aber "schöner Stress".
Für was will Tobias Becker gewählt werden?
Herausstechen. Das wollen Nötscher und Schwab also. Und wie will Tobias Becker das schaffen, aus 6200 Kilometern Entfernung? Er setzt auf sich als jungen CSUler. Ein passendes Motto dafür hat er: "jung, realistisch, zukunftsorientiert". Er will der Jugend helfen, gleichzeitig könnten ihn auch die Eltern wählen. Sie sollten sogar, sagt er und grinst. Es sei ja zu ihrem eigenen Vorteil. "Ohne Führerschein kommst du ohne die Eltern nicht weg. Ich will einen Stadtbus, dann könnten sich die Eltern und Großeltern freuen."
Becker gibt sich zwar selbst wenig Chance. Am Ende kann das Weglassen von Etabliertem auf Kosten von Neuem aus einem Außenseiter einen Amtsinhaber machen. So war das schon vor 50 Jahren bei, man mag es nicht glauben, Armin Grein. Heute kann Grein auf eine 36 Jahre lange Karriere in der Kommunalpolitik zurückblicken. 1972 ging der Marktheidenfelder aber noch als Dritter ins Rennen um den Bürgermeisterposten – für die noch recht unbekannten Freien Wähler. "Ich habe damals schon gemacht, was heute gang und gäbe ist. Ich bin von Haus zu Haus gegangen, habe mich persönlich vorgestellt und gefragt, wie es den Leuten geht", sagt der heute 80-Jährige. Das sei aus Amerika gekommen. Auch Plakate und Anzeigen hätten damals erstmals eine größere Rolle gespielt.
Armin Grein: Das ist der Unterschied zwischen heute und 1972
Die CSU sei damals Siege gewohnt gewesen, erzählt Grein, der es gerade so in die Stichwahl schaffte und dort knapp gegen den Kontrahenten aus der CSU gewann. "Die hatten schon alles vorbereitet, Essen, Siegesmusik. Davon haben sie mir aber nichts überlassen." Er lacht. Die Rache der CSU sei aber bei den nächsten Wahlen nicht ausgeblieben. Er erzählt von gestreuten Gerüchten und Lügen, gegen die er sogar gerichtlich vorgehen musste. "Die Wahlkämpfe waren damals ruppiger als heute. Meine Gegner sind immer mehr auf meine Schwächen als auf ihre Stärken eingegangen", sagt Grein und lacht schon wieder. "Je ruppiger der Umgang mit mir wurde, desto besser stand ich da."
Moderne Wahlkämpfe haben auch einen Nachteil
Trotz der Melancholie: Vieles sei heute besser, sagt Grein. Er will jedoch auch warnen. "Bei dem heutigen Konsensbrei konzentriert sich der Wähler auf Äußerlichkeiten", sagt er. Das sei nicht immer gut. Die Wahlkämpfe seien früher zwar härter, aber auch klarer in ihrer Positionierung gewesen.
Für seinen ersten Landrats-Wahlkampf hat sich Grein übrigens wieder etwas Neues einfallen lassen. Man könnte es eine "1984-Version" der Strategie von Thorsten Schwab nennen. Während seine Konkurrenz mit Blaskapellen durch die Gegend zog, nahm Grein zu seinen Besuchen im ganzen Landkreis eine Film-Kamera mit. Den Film zeigte er dann an seinen Wahlständen auf einem riesigen Fernseher. Auf die Frage, warum er das getan hat, antwortet Grein mit der vielleicht einzigen Gewinnformel, die auch noch nach 50 Jahren für den Wahlkampf gilt: "So etwas war einzigartig. Das hat die Menschen angezogen."