
Im Gebäude der Freiwilligen Feuerwehr Karlstadt hängt eine über 100 Jahre alte, reich bestickte Fahne. Ein echtes Schmuckstück. Die Fahne ist die alte Vereinsfahne des Turnvereins Karlstadt, allerdings überstickt mit Freiwillige Feuerwehr 1868. Wie kann das sein, dass die Freiwillige Feuerwehr Karlstadt die Fahne des ältesten Karlstadter Turnvereins an sich gebracht und zu der ihren gemacht hat?
Dazu gibt es eine nette Geschichte, die man sich so noch heute in Karlstadt erzählt: Die Turner des Turnvereins Karlstadt hätten an einem Turnfest in Hammelburg teilgenommen, dort aber so viel Alkohol und Speisen konsumiert, dass sie ihre Rechnung nicht begleichen konnten und stattdessen ihre Fahne verpfändet hätten. Die Freiwillige Feuerwehr hätte die Fahne später bei einem Besuch in Hammelburg entdeckt, ausgelöst und zu der ihren gemacht. Zumindest hatte die Main-Post dies in den 70er Jahren so berichtet und dann muss das ja auch stimmen! Oder vielleicht doch nicht?

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, blicken wir zunächst ins 19. Jahrhundert. Da hatte die Turnbewegung eine große Bedeutung. Neben Johann Christoph Friedrich Guts Muths hatte daran vor allem Friedrich Ludwig Jahn, bekannt als Turnvater Jahn, einen großen Anteil. Geprägt war sein Wirken zunächst von der Französischen Besetzung Europas unter Napoleon und den Befreiungskriegen gegen ihn.
Dieser Einsatz war bei den Regierenden dieser Zeit gern gesehen. Aber schon seine Körperkultur auf der Berliner Hasenheide in dünnen Turnanzügen „mit freiem Hals“, erst recht sein Eintreten für nationale Einheit in dem durch Kleinstaaterei zerstückelten Deutschland und schließlich seine Forderung nach mehr Liberalität waren eine Provokation. Die Reaktion der Obrigkeit ließ nach den erfolgreichen Befreiungskriegen nicht lange auf sich warten.

Die deutsche Turnbewegung, wesentlich aus Turnvereinen, Burschenschaften und Turnerschaften bestehend, hatte es nicht leicht. Erst recht, da sie einen großen Anteil an der misslungenen Revolution von 1848 hatte. Viele Turnvereine wurden verboten, so beispielsweise der 1849 gegründete TV Lohr, der 1851 schon wieder schließen musste. Ein Wiederaufleben der Turnvereine war erst möglich, nachdem man den politischen Zielen abgeschworen hatte, vor allem aber durch das Ziel der Obrigkeit, flächendeckend Feuerwehren einzurichten und durch den Wunsch, Leibeserziehung als Unterrichtsfach an den Schulen einzuführen. Letzteres nicht zuletzt, um gut trainierte junge Männer im Militärdienst einsetzen zu können.
So wurden bereits bei den ersten modernen Feuerwehren Turner als Steiger eingesetzt und auch entsprechend ausgebildet. Auch die körperliche Fitness der Jugend war den Regierenden ein zunehmendes Bedürfnis, so dass man Leibesübungen in den Schulen als Unterrichtsfach einführte. So war die Gründung des TV Thüngen 1862 dem Laudenbacher Pfarrer Andreas Göpfert, der zugleich Distrikts-Schul-Inspektor war, eine Nachricht an den Bezirk wert, um auf die Bedeutung für den Schulunterricht hinzuweisen.
Genau das war die Situation bei der Gründung des Karlstädter Turnvereins im Jahre 1862 und, wie sich zeigen wird, auch das Problem.
Turner waren trinkfest
Am 10. April 1862 berichtet der Würzburger Stadt- und Landbote darüber, dass sich in Karlstadt ein Turnverein gebildet habe „der bereits 32 Mitglieder hat, die der Sache mit warmer Begeisterung ergeben sind.“ Sogar dem Fürther Tagblatt von 1862 war die Gründung des Karlstädter Turnvereins eine Notiz wert.
Trinkfest waren die Turner offenbar schon. Da kam ihnen sehr entgegen, dass nach Art. 62 des Bayerischen Polizeigesetzbuchs Vereine in ihren Lokalen keiner Polizeistunde unterworfen waren. Wie das „humoristisch-satyrische Originalblatt Würzburger Stechäpfel“ am 24.Mai 1862 berichtete, war das aber dem Karlstädter Stadtvorstand ein Dorn im Auge. So schickte er zwei Polizeidiener in die Turnerversammlung, um die Polizeistunde einzuführen. Diesen fiel aber nichts Besseres ein, als auf Rechnung des Vereins wacker mit zu zechen.
Und eine Fahne gab es auch. Sowohl der Lohrer Anzeiger als auch die Würzburger Zeitung berichteten über die Fahnenweihe am 19. Oktober 1862. “Das Fest sei in schönster und erhebendster Weise verlaufen“, schreibt der Würzburger Stadt- und Landbote: „Viele kernige Reden und sinnige Toaste wurden sowohl bei der eigentlichen Feier als auch beim Festzuge ausgebracht, und der am Abend stattgefundene Fackelzug so wie der Festball krönten in schönster Weise das Fest“. Interessanterweise ist der Artikel unterschrieben mit „Die Turngemeinde Karlstadt“.
Das Turnfest in Hammelburg gab es tatsächlich, am 23. Juli 1865. Ein Verein, hieß es, kam schon am Morgen. Es ist nicht genannt, welcher Verein das war, aber da es sich laut Würzburger Stadt- und Landbote um schmucke junge Leute mit einer sehr schönen Fahne gehandelt hat, können es nur die Karlstadter Turner gewesen sein. Die Turnwettbewerbe waren am Nachmittag, 1. Preis an Karlstadt. Weiter heißt es in dem Artikel, dass der am Abend veranstaltete Ball in heiterster Stimmung verlief. Davon, dass die Karlstädter zu viel getrunken und gegessen hätten und ihre Zeche nicht zahlen konnten, steht in dem Artikel nichts.
Zuvor im Mai 1863 waren die Karlstadter Turner schon Gast bei der Fahnenweihe in Zellingen. Im September 1865 waren die TVler in Aura beim dortigen 1. Stiftungsfest, der 1. Preis, bestehend aus einem schönen Glas, fiel an Karlstadt. Möglicherweise handelt es sich dabei um das Trinkhorn, das in den ersten Protokollen der Freiwilligen Feuerwehr erwähnt wird. Auch dieser Tag ging laut Zeitungsbericht in ungetrübter Heiterkeit vorüber.
Ab 1866 wird es ruhiger mit der Turnbegeisterung in Karlstadt. Es war Krieg. Bayern kämpfte an der Seite Östereichs. Preußische und Bayerische Truppen zogen abwechselnd durch unsere Gegend, zerstörend und requirierend, bis zu der entscheidenden Schlacht bei Uettingen. Das Schlimmste aber war eine von den einquartierten preußischen Soldaten eingeschleppte Choleraepidemie. Von den 2236 Einwohnern Karlstadts sind 5,2 Prozent als erkrankt registriert und von diesen 47,4 Prozent gestorben. Eine enorme Letalität (zum Vergleich: Corona in Karlstadt in 2020/2021 0,5 Prozent).
1886 gab es zwei Turnvereine in Karlstadt
Erst 1868 dachte man wieder an Vergnügungen und eben an das Turnen. Aber auf einmal gab es zwei Turnvereine, die sich beide in der Nachfolge des Turnvereins von 1862 sahen. Auf einer Mitgliederversammlung am 23. Oktober 1868 wählten die einen den Häfnermeister Philipp Schäfer zu ihrem Vorsitzenden, die anderen den Spenglermeister Andreas Schuchbauer. Philipp Schäfer beschreibt es in einem Brief vom 28. November 1868 an die Stadtverwaltung so: „ … verschiedene Partheilichkeiten, denen eigentlich die Turnvereinssache nichts anging stifteten unter den alten Turnern Zwietracht …“. Die Meinungsverschiedenheiten müssen immerhin so groß gewesen sein, dass Philipp Schäfer sich in einem weiteren Brief vom 11. Dezember 1868 an die Stadtverwaltung beschwert, dass zwischen den Vereinen „…Reibereien, Beschimpfungen vorkommen und man muß gewärtig sein, daß es auch noch zu Thätlichkeiten führen kann“.

Damit begann aber auch der Streit um das „Vermögen“ des alten Turnvereins. Wesentlicher Bestandteil dieses „Vermögens“ war die Vereinsfahne. Aber wo war die Vereinsfahne? Sie ist tatsächlich „versoffen“ worden, aber nicht in Hammelburg sondern im Vereinslokal beim Adlerwirt Wacker. Es handelte sich immerhin um 22 Gulden Schulden. Nachdem die Turner ihre Zeche nicht zahlen konnten, hatte er kurzerhand die Fahne konfisziert.
Spenglermeister Andreas Schuchbauer hat sie später ausgelöst und der Stadtverwaltung Karlstadt zur Verwahrung übergeben. Eine der Parteien hat 1868 sogar den Würzburger Rechtsanwalt Steidle beauftragt, bei der Stadtverwaltung zu intervenieren, dass ihnen die Fahne wieder ausgehändigt wird. Allein die Stadtverwaltung konnte sich nicht entscheiden, welchem der beiden Vereine sie die Fahne übergeben sollte.
Als am 9. Januar 1869 die erste Wahl der Freiwilligen Feuerwehr stattfand, wurde ersichtlich, dass es Turner um Andreas Schuchbauer waren, die die Feuerwehr gegründet hatten. So finden sich die Vorstandsmitglieder der Turner A.Schuchbauer, C.Steinike und Ph.Stromenger auch im Vorstand der neugegründeten Feuerwehr. Kann man daraus schließen, dass die Probleme zwischen den beiden Turnvereinen daraus rührten, dass die einen möglichst schnell Teil der Feuerwehr werden wollten, die anderen eher nicht?
Auch wenn die Stadtverwaltung Karlstadt in einem Schreiben an das Bezirksamt mitteilt, dass „… die beiden neugewählten Turnvereinsvorstände Ph. Schäfer und A. Schuchbauer sich lebhaft für ein rasches Gedeihen der Feuerwehr interessieren …“, so bleiben die Turner um Schäfer der Feuerwehr zunächst fern. Erst im Protokoll der Plenarversammlung vom 1. Januar 1876 wird dann erwähnt, dass sich der vormalige Turnverein jetzt mit dem Feuerwehrverein vereinigt hat. Nun taucht auch wieder die Fahne auf, „die von dem jetzigen Feuerwehrverein als Eigentum erworben wurde“, sowie das restliche „Vermögen“ des Turnvereins, nämlich ein Trinkhorn, ein Schaukelseil und eine Leiter.
Das Turnen war nebensächlich geworden
So sind die Karlstadter Turnvereine in der Freiwilligen Feuerwehr aufgegangen. Auch wenn in einem späteren Protokoll noch einmal bekräftigt wird, dass die Karlstadter Feuerwehr bereits seit ihrer Gründung 1868 den Namen Freiwillige Feuerwehr & Turnverein Karlstadt trägt, so war das Turnen offenbar eher nebensächlich geworden.
Das war aber nicht nur in Karlstadt so. Allgemein war der Turngedanke nicht mehr sonderlich aktuell. Um 1880 kam es an den Universitäten zu einer Erneuerung der Turnbewegung, es war auch die Zeit der Jugendbewegung. Namentlich war es der Akademische Turnbund, heute noch ein Landesverband des Deutschen Turner-Bundes, der die Turnbewegung neu entfachte. Man spricht hier von einer dritten Periode des Aufschwungs der Leibesübungen und weithin im Land kam es zu Neugründungen von Turnvereinen.
In Karlstadt war es der Buchdruckereibesitzer Johannes Dietz der die Bildung eines neuen Turnvereins initiierte. Am 4. November 1884 wurde der TV 1884 Karlstadt gegründet.
Wohl als Reaktion darauf und um etwaigen Begehrlichkeiten vorzubeugen, hat die Freiwillige Feuerwehr am 6. November 1884, also zwei Tage später, noch einmal bekräftigt, dass sie seit der Gründung 1868 den Namen „Freiwillige Feuerwehr & Turnverein Karlstadt“ trägt, und beschloss, die alte Fahne des Turnvereins 1862 mit Freiwillige Feuerwehr Karlstadt in Gold besticken zu lassen.
So hat sich die Überlieferung, dass die Fahne des TV1862 Karlstadt „versoffen“ worden ist, bewahrheitet, allerdings nicht in Hammelburg, sondern ganz schnöde in einer Karschter Wirtschaft. Die Version mit dem Turnfest in Hammelburg ist aber zweifelsohne die schönere.
Zum Autor: Karl-Werner Weigel hat 38 Jahre lang in Karlstadt als Kinderarzt gearbeitet. 16 Jahre lang ist er im Vorstand des TSV Karlstadt, davon zehn Jahre als erster Vorsitzender, und jetzt Ehrenvorsitzender und Ehrenmitglied.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter /dossier/geschichte-der-region-main-spessart/