
Um 5.30 Uhr klingelt irgendwo in Retzbach ein einsamer Wecker. Pierre Gehrsitz setzt sich auf, schält sich aus seinem Schlafoutfit und spult seine Morgenroutine ab. Dann schlüpft der dreifache Familienvater in eine schwarze Hose mit unzähligen Taschen und eine wind- und wasserfeste Softshelljacke in schwarz-gelber Optik. "Gehrsitz" prangt auf dem Namensschild auf seiner linken Brust.
Inzwischen ist es 6.15 Uhr. Er zieht sich eine Sturmhaube über, schwingt sich auf sein Fahrrad und radelt zum Zustellstützpunkt im Zellinger Gewerbegebiet. Gehrsitz hat heute eine Mission. Er wird unserem Autor zeigen, warum die wahren Weihnachtsmänner und -frauen eigentlich bei der Deutschen Post arbeiten – und warum der Dezember in dieser Branche nicht unbedingt die besinnliche Zeit ist, von der alle immer reden.
Seit 25 Jahren sind Pakete sein Geschäft
Der Standort Zellingen befindet sich eigentlich in Retzbach und ist einer der neuesten der Region. Von hier aus schwärmen Gehrsitz und seine Kolleginnen und Kollegen montags bis samstags in die umliegenden Orte aus. "Im Juni wurden die Standorte Karlstadt und Zellingen zusammengelegt", erklärt Gehrsitz. Er war von 2013 bis 2022 Teamleiter in Karlstadt und versorgt die Menschen in der Umgebung seit knapp 25 Jahren mit Briefpost und Paketen. Für den gebürtigen Retzbacher war die Zusammenlegung der Stützpunkte im Vorjahr "wie ein Sechser im Lotto", was den Arbeitsweg betrifft.

Scanner sorgt für den Moment der Wahrheit
Am Rand der Halle, in der die Pakete verteilt werden, steuert Gehrsitz auf den Tisch mit den Scannern zu – die Allzweckwaffe eines jeden Postzustellers. Das Gerät, das dem Empfänger an der Tür zum Unterschreiben hingehalten wird, hat noch einen wichtigeren Job. Es beantwortet die wichtigste Frage des Tages. Die Frage, die nicht nur über die Uhrzeit des Feierabends, sondern auch die Laune des gesamten Tages entscheiden kann. Wie viele Pakete habe ich heute?
Gehrsitz wartet die Berechnung seines Scanners für Bezirk 27 ab und seine Augen beginnen, zu leuchten. "Nur 75 Pakete! Die letzten Tage war die Zahl immer dreistellig", freut er sich und betont mehrmals, dass er es kaum glauben kann. "Allerdings macht man sich mit so wenig Paketen nicht gerade beliebt bei den Kollegen, da werden einem oft Sprüche gedrückt", ergänzt er und lacht.
Eine Kollegin von Gehrsitz, die den benachbarten VW-Bus mit Paketen für Thüngen belädt, hatte nicht so viel Glück "113 habe ich heute draufstehen. Ein anderer Kollege hatte diese Woche auch schon 170 beladen. Auch 200 können in der Vorweihnachtszeit vorkommen", sagt sie. Besonders hart seien die Black Week und deren Nachwehen Anfang Dezember gewesen, als ein großer Teil der Weihnachtsgeschenke bestellt wurde.

Weihnachtsohrwürmer im Weihnachtsstress
Der Zustellstützpunkt in Zellingen umfasst 29 Zustellbezirke. Die gelbe Flotte deckt reichlich Terrain ab. Von hier aus wird in Zellingen, Retzbach, Retzstadt, Himmelstadt, Thüngen, Thüngersheim, Leinach, Erlabrunn sowie Karlstadt, Eußenheim und deren Ortsteilen zugestellt. Auf seinem Bezirk ist Gehrsitz heute für einen Teil von Karlstadt sowie die Eußenheimer Ortsteile Hundsbach und Obersfeld zuständig.
Irgendwo im Gewusel läuft ein Radio. George Michael gibt bei "Last Christmas" wieder alles und Gehrsitz sowie seine Mitstreitenden stehen dem Sänger von "Wham" in nichts nach. Um das Auto startklar zu machen, müssen morgens viele Handgriffe sitzen. Wie ferngesteuert steckt Gehrsitz Briefe und größere Post – auch Langholz genannt – in die dafür vorgesehenen Fächer für die einzelnen Hausnummern jeder Straße. "Hallo, wo sind die Paketverteiler", ruft ein Kollege und reißt den 45-Jährigen aus seinem Automatismus.

Mehrere Lkw liefern die Paketwägen aus dem Sortierzentrum in Kitzingen etappenweise an. In den Zwischenzeiten wird beladen und Post sortiert. Um 8:52 rollt einer der Kollegen mit heruntergelassenem Fenster vom Hof. "Jingle Bells" voll aufgedreht, gestikuliert er dirigierend im Takt. "Gerade vor Weihnachten muss man regelmäßig daran denken, warum man sich für den Job entschieden hat", sagt Gehrsitz.
Durch Wurfsendung zur Deutschen Post gekommen
Nach schlechten Erfahrungen als Bürokaufmann und im Getränkemarkt kam er im Alter von 20 Jahren ausgerechnet durch eine Wurfsendung der Deutschen Post auf die Idee, Zusteller zu werden. "Das selbstständige Arbeiten und draußen zu sein, für sich zu arbeiten, hat mir dann direkt gefallen", erinnert er sich.
9.15 Uhr. Gehrsitz schließt Kofferraumklappe und Seitentüren seines fertig beladenen VW T5. Er tauscht die Stahlkappenschuhe, die in der Paketverteilung getragen werden müssen, gegen bequeme Sneaker, startet den Motor und fährt Richtung Karlstadt. Der morgendliche Trubel ist überstanden, die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen wird er erst morgen wieder sehen. Am Kreisbauhof in der Bodelschwinghstraße verlässt er zum ersten Mal das Auto. Brief für Brief und Paket für Paket kämpft er sich durch das Gewerbegebiet und anschließend durch den Schul- und Wohnbereich der längsten Straße der Kernstadt.
Vereinzelt wünschen Leute Gehrsitz bei der Paketübergabe knapp zwei Wochen vor dem Fest schon 'Frohe Weihnachten'. "Die meisten sind aber Stammkunden und bestellen sowieso täglich", weiß er. Weihnachtswünsche sind ihm sehr viel lieber als die Sprüche, die er an manchen Haustüren ertragen muss. "Rechnungen darfste behalten" oder "Da sparst du dir das Fitnessstudio" seien "gern" gehörte Klassiker. Begrüßungen wie "Trari, trara, die Post ist da" oder "Ah, der Herr Oberpostrat" seien früher verbreiteter gewesen als heute.

Hundebisse in der Zustellung immer gefährlich
Nach dem Start in Karlstadt geht es mit den gut 60 verbliebenen Paketen im Laderaum weiter. Gehrsitz überlässt Eußenheim, Aschfeld, Münster und Bühler den Kollegen und fährt durch bis Hundsbach. Dort angekommen, stellt sich wieder der gewohnte Ablauf ein. Handbremse ziehen, Tür auf, hintere Schiebetür auf, Paket nehmen, Türen wieder zumachen, zustellen, wieder einsteigen und ein paar Meter weiter fahren.
Um 11.27 Uhr hält Gehrsitz an der Walther Tankstelle in der Bonnlandstraße 5 in Hundsbach. In der dazugehörigen Postfiliale verbringt er meistens seine Pause. "Kaffee...?", fragt Christine Marterstock direkt nach Betreten der Filiale, die 1993 die erste ihrer Art in ganz Main-Spessart war. Keine fünf Minuten später steht sie mit zwei Wachmachern und jeweils einem Stück Kuchen vor dem Postler und dem Mann von der Zeitung.
Nach Stärkung und kurzem Tratsch geht es weiter nach Obersfeld. Gehrsitz manövriert den VW-Bus gekonnt rückwärts durch eine der engen Gassen. Ein Haus weiter bellt ein Hund. Ein Schild mit der Aufschrift "Warnung vor dem Hunde" hängt am Hoftor. "Dreimal bin ich bis heute im Dienst gebissen worden, einmal im Sommer in die Wade, da hab ich auch geblutet", erzählt der Retzbacher. Ein Kollege sei erst kürzlich nach einem Hundebiss im Krankenhaus gewesen.

Respekt vor der Woche vor Weihnachten
In der Regel legt Pierre Gehrsitz auf diesem Bezirk 60 Kilometer mit dem Auto zurück. Körperlich anstrengend ist aber weniger die Fahrerei, sondern eher die vielen Meter zu Fuß sowie das ständige Aus- und Einsteigen. Das könne je nach Sendungsmenge an einem Tag über hundert Mal vorkommen. Eine Laufdistanz von über zehn Kilometern am Tag sei keine Ausnahme. Doch Gehrsitz schätzt sich glücklich: "Viele Kollegen haben Rücken- oder Knieprobleme und gehen damit vorzeitig in den Ruhestand. Ich habe bisher nie größere Beschwerden gehabt."
Größere Beschwerden kommen auch mit Blick auf diesen Arbeitstag nicht auf. 75 Pakete – er hofft noch immer, morgens nichts übersehen zu haben. Es ist erst 14.15 Uhr, als sein Bus mit Bonner Kennzeichen wieder auf den Hof des Zustellstützpunkts fährt. Mit der doppelten Menge an Paketen wäre er einige Stunden länger unterwegs gewesen. Er legt die Briefe aus den auf seiner Tour geleerten Briefkästen in die dafür vorgesehene gelbe Wanne, bearbeitet die unzustellbaren Briefe und stellt den Scanner zurück in die Ladestation.
"Das waren bei mir heute so wenig Pakete wie im Sommer. Aber im Dezember mal früher zur Familie heimzukommen, ist auch schön", sagt Gehrsitz und geht zu seinem Fahrrad. Morgen, Samstag, muss er nochmal ran.