
Im Dornröschenschlaf befindet sich seit rund eineinhalb Jahren die Karlstadter Videothek an der Würzburger Straße. Die Werbebanner hängen noch und die Filme sind fast alle noch da. Aber anders als im Märchen wird die Videothek sicher kein Prinz wieder wachküssen. Die Zeit der Videotheken ist vorüber. Die letzten Jahre hatte Konrad Gramlich, Eigentümer des Gebäudes, sie ganz alleine selbst betrieben. Der inzwischen 76-Jährige war in etwa der unwahrscheinlichste Videothekenbetreiber, den man sich denken kann.
"Ich hab keinen einzigen Film angeguckt, da hatte ich ja gar keine Zeit für", sagt er. Fünf Jahre lang, bis im Juli 2017, stand er abends in der Videothek, bediente Kundschaft, bestellte neue Filme und gab Empfehlungen. Zumindest am Anfang ohne einen blassen Schimmer zu haben, wie er zugibt. "Ich bin kein Filmegucker, das war absolut neu für mich." Bei englischen Filmtiteln musste er seine Kinder oder Enkel um Rat fragen, wie man die wohl ausspricht.

Ein Videothekenbetreiber, der keine Ahnung von Filmen hat – kann das gutgehen? Seine Frau und Kinder hätten sich "totgelacht" bei dem Gedanken. Besonders anfangs sei er tatsächlich in Bedrängnis gekommen, wenn ein Kunde etwa sagte: "Der Schauspieler da, der hat in einem früheren Film mitgespielt. Der würde mich interessieren."
Aber der redselige Schaffer hat sich mit seinen Kunden gern unterhalten, auch über Filme. "Da bleibt was hängen, das geht schnell." Und deren Erfahrungen gab er dann weiter. Manchmal sagte er auch: "Das ist ein klasse Film, denn müssen Sie mal angucken, da geht richtig die Post ab." Aber er räumt ein: "Ich wusste von dem Film überhaupt nichts." Um eine Videothek zu betreiben, müsse man kein Supermann sein, sagt Gramlich.
Er hatte eine Auswahl von 6000 bis 7000 Filmen, Kunden waren junge und alte Leute. Am Wochenende, so Gramlich , kamen vielleicht 20 Kunden, unter der Woche etwa die Hälfte. Erotik habe überwiegend ältere Kunden von 50 bis 70 interessiert. "Wenn wieder so ein Opa gekommen ist und hatte fünf Erotikfilme dabei, habe ich gesagt: 'Jetzt ist aber wieder Hämmertime'." Gramlich: "Man muss das mit Herzblut machen."
Er hat sich nie darum gerissen, eine Videothek zu betreiben. Früher war in der Videothek die Spielhalle der daneben liegenden ehemaligen Diskothek Tropic (1984–1992) mit Billardtischen und Automaten. Die Diskothek ließ Gramlich abreißen und baute 1994 an deren Stelle ein neues doppelgeschossiges Gebäude, in das unten der Getränkemarkt Toom (heute Logo) einzog. Oben hätte eigentlich wieder eine Disco mit 750 Quadratmetern reinkommen sollen. Die fertigen Disco-Pläne legte Gramlich jedoch auf Eis, er habe "mit dem Logo-Markt den Buckel so voll mit Schulden gehabt", das sei ihm zu riskant gewesen.

Stattdessen mieteten im Oktober 1996 Aschaffenburger Videothekenbetreiber die sanierte ehemalige Spielhalle von Gramlich. Zuvor hatten sie die Videothek in der Karlstadter Hauptstraße neben dem Stadtmuseum, aber wegen der neuen Fußgängerzone hätten die Autofahrer nicht mehr hinfahren können, erzählt der 76-Jährige. Außerdem betrieben sie die Videothek in Lohr.
Die Betreiber richteten die Videothek ein und betrieben sie etwa zehn Jahre lang. Gramlichs vernichtendes Urteil: "Die haben sie zugrunde gewirtschaftet." Sie hätten sich nicht darum gekümmert. Irgendwann sei die Miete ausgeblieben, über etwa ein Jahr hätten sie mal bezahlt, mal nicht.
Schließlich verkauften sie die Videothek im Juni 2009 samt Filmen an einen Videothekenbetreiber aus Würzburg. "Das war ein Paradiesvogel", sagt Gramlich. Ein halbes Jahr habe der seine Miete gezahlt, "dann ging das Gleiche los". Wie die Vorgänger habe er "gewurschtelt", also "schlecht gewirtschaftet, zu viel Personal, zu viele Filme bestellt". Irgendwann kam die Insolvenz.
"Herr Gramlich, was machen wir?"
Der Insolvenzverwalter sei zu ihm gekommen und habe gefragt: "Herr Gramlich, was machen wir?" Gramlich habe gesagt: "Da haben Sie die Videothek, ich muss sie nicht haben." Er wolle nur seine Miete. Aber der Insolvenzverwalter wollte sie auch nicht.
So kam der Karlstadter wie die Jungfrau zum Kind im Jahr 2011 zu einer Videothek. "Meine Frau sagt noch: 'Du kannst doch keine Videothek betreiben, du hast doch da überhaupt keine Ahnung davon.'" Aber sein Motto ist: "Was man nicht kann, das kann man lernen." Er zahlte für die Einrichtung und die Filme eine Ablöse an den Insolvenzverwalter und ließ den Betrieb mit drei, vier Teilzeitkräften zunächst einmal weiterlaufen und schaute, dass er seine Miete irgendwie bekam. "Ich hab die Hand drauf gehabt."
Nach vier, sechs Wochen habe er Ordnung reingebracht. "Das war Kraut und Rüben." Er sorgte dafür, dass die Filme ordentlich einsortiert wurden, beschaffte ein neues Videotheken-Verwaltungsprogramm. Die Vhs-Kassetten verramschte er, den Rest brachte er zur Mülldeponie. Nach einem halben Jahr sei "alles auf der Reihe" gewesen, aber er habe festgestellt, dass die Einnahmen so gering waren, dass er die Angestellten entlassen musste.
"Bevor ich Fernsehen gucke oder sonst einen Blödsinn mache, dann kann ich mich auch hier reinstellen", dachte er sich. Er verkürzte die Öffnungszeiten und kaufte von neuen Filmen statt drei nur noch ein oder zwei Exemplare. Wie das ging ohne Ahnung? Er habe einfach anhand des Titels und der Beschreibung gedacht: "Der könnte funktionieren." Natürlich hätten Kunden auch nach Filmen gefragt, die er dann schnell beschaffte.

Weil er keine Miete und sich selbst keinen Lohn zahlen musste, konnte er die Videothek fünf Jahre "kostendeckend über Wasser halten". "Von fünf bis um neun hab ich mich abends reingestellt, das war an und für sich keine Anstrengung." Aber er habe auch in den fünf Jahren, als er am Ruder war, die Konkurrenz durch das Internet immer stärker gespürt. Stolz ist er darauf, dass seine Videothek sich länger behaupten konnte als die in Lohr, Gemünden und Marktheidenfeld.
Wegen einer anstehenden Herz-OP im Juli 2017 musste er schließlich aufgeben. "So steht die Videothek heute noch da." Die letzten drei Monate vor der Schließung gab es zwar einen Räumungsverkauf, aber da habe er nur wenige Filme verkauft. Seither habe er keine Zeit mehr für einen wahrscheinlich wenig lohnenden Abverkauf gehabt. Irgendwann müsse er aber doch mal einen machen. Er habe auch schon Mietinteressenten gehabt, aber erst will er das Gebäude sanieren.
Der gebürtige Badener ist mit seiner Frau Rosemarie, die aus Miltenberg stammt, seit 1966 in Karlstadt. Er hat beruflich eine bewegte Vergangenheit. Damals übernahm der gelernte Kfz-Meister die Shell-Tankstelle in der Arnsteiner Straße, später führte er ein Ford-Autohaus und einen Autohandel, gab das Autogeschäft aber 1991 auf. Schon zuvor hatte er die bestehende Gebrauchtwagen-Halle an der Würzburger Straße 1984 zur Diskothek Tropic umgebaut, weil ihm die Bank signalisiert habe, er könnte seine Verbindlichkeiten mit dem Autogeschäft alleine nicht bezahlen.