
Dem Spessart und seinen Bewohnern ging es seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend schlechter. Während die Bevölkerungszahl der ehemaligen Glashüttendörfer stieg, ermöglichte die Landwirtschaft wegen des nährstoffarmen Bodens trotz Rodungen kein ausreichendes Auskommen mehr. Die Entnahme von Bauholz, Brennholz, Laub und Streu hatte weite Teile des Staatswaldes geschädigt, sodass im Gegenzug genaue Grenzen an der Feldmark versteint und Waldzutrittseinschränkungen und -verbote verhängt wurden.
Der damalige Kurmainzer Erzbischof Erthal versuchte, die notleidenden Untertanen mit einer „Landesnotdurftskasse“ ab 1780 zu unterstützen. Sie fand ihre Fortsetzung in bayerischer Zeit mit der „Spessarter Hilfskasse", auf die ab 1843 mit finanzieller Unterstützung König Ludwigs I. fünfzig Spessartorte Zugriff erhielten. Sie wurde von einer Kommission unter dem Vorsitz des Regierungspräsidenten von Unterfranken verwaltet. In der Folge betraf die europaweite Hungersnot 1846-48 auch den Spessart und verschlimmerte die damals herrschende Armut, sodass sich manche Orte an den Revolutionsunruhen 1848/49 beteiligten.
In dieser Situation kam Rudolf Virchow 1849 als junger habilitierter Arzt aus dem renommierten Berliner Krankenhaus Charité an die Universität Würzburg. Der aus Hinterpommern stammende Virchow (1821-1902) ist heute bekannt als bahnbrechender Mediziner, Politiker, Anthropologe und Prähistoriker. Der Wechsel kam erzwungenermaßen, denn 1848 hatte Virchow nach einer vom preußischen Ministerium in Auftrag gegebenen Reise nach Oberschlesien, wo eine Flecktyphus-Epidemie wütete, den Staat als Verursacher gebrandmarkt: Preußen müsse Arznei und Lebensmittel liefern sowie „volle und unumschränkte Demokratie“ gewähren. Danach beteiligte er sich in Berlin an den 1848er Straßenkämpfen. Er hatte bereits als junger Arzt und Wissenschaftler einen hervorragenden Ruf, doch verlor er seine Stelle an der Charité.
Dies muss entsprechenden Stellen der Medizinischen Fakultät an der Universität Würzburg zu Ohren gekommen sein. Es gelang nicht nur, Virchow für die freigewordene Professur für pathologische Anatomie zu gewinnen, sondern es sollte sogar ein pathologisches Institut eingerichtet werden. Außerdem gelang es der Universität, das bayerische Ministerium von seiner Aufnahme zu überzeugen, denn auch in München hatte man von seinen politischen Aktivitäten gehört und war zunächst skeptisch.

Kaum angekommen gründete Virchow 1849 mit Professorenkollegen die Physikalisch-Medizinische Gesellschaft in Würzburg, deren Vorsitzender er bald danach wurde. Vielleicht aus Interesse, vielleicht um die Tätigkeit des jungen Mannes zu beobachten, traten der Gesellschaft die Regierungsräte Kreismedizinalrat Dr. Carl Schmidt und Nikolaus Koch bei. Nachdem im Spessart im Winter 1851/52 Typhusfälle aufgetreten waren, sollte dies kurzfristig auf Anweisung des Innenministers überprüft werden. Virchow erhielt dafür den Auftrag für eine Reise vom 21. bis zum 28. Februar. Das Ziel der Reise beschreibt er in seinem Buch "Not in Spessart":
Um die von Hungersnoth bedrängten Gegenden des Spessarts zu besuchen und den durch traurige Gerüchte als gefährdet dargestellten Gesundheitszustand der Bewohner zu erforschen. Es standen die Bilder jener Noth (in Oberschlesien) noch immer frisch und schroff in meiner Erinnerung da. Sollten sie jetzt durch neue verdrängt werden?

Aufgrund des ministerialen Auftrags begleiteten ihn die beiden Regierungsräte Schmidt und Koch. In dem von Virchow über diese Reise veröffentlichten knapp gehaltenen Text steckt so viel Gehalt, dass dieser Beitrag dazu genutzt wird, dies kompakt mit seinen eigenen Worten vorzustellen. Er gab – immer mit Quellen- und Literaturangaben – einen Überblick über die Geologie und Topografie.
Im ganzen Gebiete des Spessart liegt keine einzige Stadt; nur Dörfer von zum Theile ziemlich bedeutender Grösse, halb versteckt in den Thälern und Gründen der Waldbäche, unterbrechen in weiten Abständen diese grosse Waldeinsamkeit.
Dann fasste er den damaligen Stand der Geschichte des Mainvierecks zusammen, mit Zitaten unter anderem aus dem Nibelungenlied. Er kam zu dem Schluss:
Der Spessart ist ein der grossen Welt ziemlich unbekanntes Gebiet, und wenn auch Mancher die Strasse gen Aschaffenburg und Frankfurt, die über seine Höhen führt … gereist sein mag, so kommen doch ausser den nächsten Nachbarn fast nur Forstleute und Holzhändler in seine innern, verschlossenen Thäler. Es ist nicht die Strasse der Touristen und der flüchtig Reisenden.
Angenehme Form des weiblichen Geschlechts im Spessart
Virchow erkundigte sich über die örtlichen Verhältnisse bei Beamten, Ärzten, Revierförstern, Pfarrern und Schullehrern. Überraschend ist sein erstes Statement zu den Menschen:
Der Menschenschlag ist im Allgemeinen wohl gebildet und namentlich das weibliche Geschlecht zeichnet sich durch grössere Frische und angenehmere Form vortheilhaft vor den fränkischen Frauen aus.

Darüber hinaus machte er sich durch zahlreiche, von Haus zu Haus vorgenommene, häufig ganz unerwartete Besuche ein persönliches Bild von den Lebensverhältnissen. Das Auskommen der Bevölkerung sei schwierig, der Boden habe große Magerkeit und Austrocknungsfähigkeit. Es wüchsen nur Sommerkorn, Hafer und Buchweizen und am besten die Kartoffel. Doch habe die Kartoffelkrankheit 1846-48 gezeigt, dass diese Frucht kein Wundermittel sei. Vorhanden waren Nahrungsmittel schon, denn:
... hätte der Spessarter Geld, so würde er leicht Kartoffeln und noch viel leichter Brod haben kaufen können, denn in jedem Dorfe, das wir besuchten, hatten die Bäcker gutes und relativ billiges Brod. Es war also mehr eine Geldnoth, als eine Noth an Lebensmitteln in der Gegend. Aus eigenem Anbau war relativ reichlich und daher viel gebraucht … das Kraut (Sauerkohl) und nächst ihm die Rüben.
Es folgen genau recherchierte Zahlenangaben zur Bevölkerungsdichte und über die Wohnungsverhältnisse mit kleinen überbelegten Häusern.
Wohin man kommt, sieht man im Spessart relativ kleine Häuser, die über einem meist ganz überirdischen Keller ein einziges Wohnzimmer mit engem Kämmerlein und eine kleine Küche enthalten.
Zur Lage der Siedlungen äußert er sich wie folgt:
Die Dörfer an sich sind keineswegs eng, im Gegentheil liegen die einzelnen Häuser meist ziemlich getrennt von einander … Jede Markung ist verhältnissmässig klein zu den im Ganzen grossen und volkreichen Dörfern, und es hat eine ungünstige Verkleinerung des Grundbesitzes durch fortgehende Zerstückelung der Grundstücke stattgefunden.
Wie zu erwarten, sind seine Schilderungen über die Zustände in den Gebäuden drastisch:
Im Innern einer solchen Wohnung haust eine fast immer sehr zahlreiche und mit Kindern gesegnete Familie. Zuweilen sind mehrere Generationen gleichzeitig, zuweilen auch mehrere fremde Familien zusammen darin vorhanden. Insbesondere häufig ist es aber, dass Seitenverwandte mit Kindern zugleich dieselben Räume mitbewohnen. Die meist sehr schmutzigen und, wo es möglich ist, dicken und heissen Betten stehen in geringer Zahl sowohl im Zimmer selbst als in dem oft dunkeln und dumpfen Kämmerchen, so dass es gewöhnlich ist, wenn 2-3 Personen, selbst von verschiedenen Geschlechtern, in demselben Bette schlafen.
Daraus erkläre er sich:
... die grosse Ungebundenheit des socialen Lebens, welches nicht selten zur äussersten geschlechtlichen Immoralität und zu einer vollständigen Auflösung des Familien-Verbandes führt.
Er ergänzt dies anhand örtlicher Statistiken über uneheliche Kinder sowie zur Kindersterblichkeit und zog an manchen Stellen Vergleiche mit Oberschlesien, bekannte aber, dass er dafür zu wenig Material habe. Wie in Oberschlesien und Irland führte er diese Verhältnisse auf die katholische Kirche zurück, die nicht dazu in der Lage sei, die Völker ...
... durch Unterricht zu Bildung, Wohlstand und Sittlichkeit (zu bringen). Das sei heute die Aufgabe des Staates, sonst wird sich nichts ändern. Das ist eine Meinung …, welche ohne Eifer und Zorn, ohne Parteirücksicht und ohne Parteifurcht gewonnen ist und ausgesprochen werden darf.
Der Staat und der König hätten in der Vergangenheit im Spessart viel geholfen, aber ...
... was die Regierung in früheren Jahren Menschenfreundliches gethan und berathen hat, um das Wohl des bedrängten Volkes zu sichern, mag wohl wenig über den Kreis der Eingeweihten hinausgedrungen sein, und selbst die königliche Gnade hat hier wenig Lobredner gefunden.
Virchow fasste die Berichte über Epidemien und Krankheiten zusammen. Anhand von Statistiken wies er kleinere Epidemien nach und analysierte dann die Sterberaten einzelner Bezirke.
Es zeigt sich daher, dass die Sterblichkeit in Unterfranken … geringer war, als in ganz Bayern und dass von den Spessart-Bezirken zwei, Rothenbuch und Orb, ein noch günstigeres Verhältniss als Unterfranken darbieten … Im Ganzen ist dies gewiss ein überraschendes Resultat, überraschender um so mehr, als unsere frühere Schilderung eher auf das Gegentheil vorbereitet haben möchte.
Geringe Sterblichkeit wegen Bergluft
Dafür suchte Virchow nach einer schlüssigen Erklärung.
Es ist ein Resultat, das noch durch fernere genaue statistische Untersuchungen weiter geprüft werden muss, das aber, wenn es sich bestätigen sollte, um so schlagender beweisen wird, wie hygienisch günstig trotz aller entgegenstehenden Hindernisse des socialen Lebens die Bergluft, die elevirte Lage, die hohen Waldgegenden und die Arbeiten im Freien einwirken.
Wir sehen, dass der glänzende Mediziner und Wissenschaftler hier vor einem Rätsel stand. Man konnte von ihm nicht erwarten, dass eine Reise von acht Tagen alle Fragen lösen würde. Das die Regierung beruhigende Fazit lautete daher:
Im Allgemeinen war der Krankenstand ein äusserst geringfügiger, wenn auch nicht gerade gesagt sein soll, dass der Gesundheitszustand ein durchaus befriedigender gewesen wäre … An keinem Theile des Spessarts konnten wir endemische Krankheiten in irgend welcher grösseren Verbreitung auffinden … und die Commission beschränkte sich daher darauf, eine allgemeine Visitation aller Ortschaften zu veranlassen, um so die Controlle des Krankheitscharakters fortführen zu können.
Die Virchowgruppe verneinte also Hungertyphus, zumal ...
... die Anlegung von Suppenanstalten, die Vertheilung von Brod, Reis etc. … fast überall genügt, sofort diese Zustände zu beseitigen. Unsere Vorhersage, dass keine Epidemie in nächster Zeit zu befürchten stehe, hat sich glücklich bewahrheitet …
Virchows erstellte unmittelbar nach der Reise einen Bericht für die Regierung. Den zweiteiligen Vortrag, der dann unter dem bekannten Titel veröffentlicht wurde, hielt er am 6. und 13. März 1852 vor der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft in Würzburg. Für seine weitere Forschungsarbeit hatte diese Publikation keine Auswirkungen. Er verließ Würzburg nach sieben fruchtbaren Jahren in höchster Anerkennung, um in der Charité in Berlin nun wieder mit offenen Armen empfangen zu werden.
Für den Spessart waren die Folgen gravierender. Vielzitiert ist Virchows „Noth im Spessart“ – kaum eine Publikation, die sich mit der Geschichte und den Menschen des Spessarts befasst, kommt an der 56-seitigen Broschüre des berühmten Mediziners vorbei.

Die ständige Rezeption Virchows führte seither zur Gleichsetzung von Spessart und Armut. Dabei herrschten in den meisten Mittelgebirgen des 19. Jahrhunderts ähnliche Zustände. Es sei empfohlen, das Werk im Ganzen zu lesen und sich selbst ein genaues Bild von Virchows „Noth im Spessart“ zu machen. Am Schluss soll ein Zitat des Mediziners stehen, der sich bei aller Wissenschaftlichkeit klar darüber war, dass nicht alle Fragen auch Antworten finden würden:
Sogar das selbstgefällige Auge des medicinischen Historikers hat den Schleier, der über der Leidensgeschichte dieses Volkes ruht, nicht gelüftet.
Zum Autor: Dr. Gerrit Himmelsbach (54) ist Historiker und Archäologe. Der gebürtige Aschaffenburger ist seit 1999 Projektleiter des Unterfränkischen Instituts für Kulturlandschaftsforschung an der Universität Würzburg/Archäologisches Spessart-Projekt e.V. mit Sitz in Aschaffenburg. Seit 2008 hat er einen Lehrauftrag am Lehrstuhl für Fränkische Landesgeschichte an der Universität Würzburg und unterrichtet Archäologie am Hanns-Seidel-Gymnasium in Hösbach.
Literatur: Virchow, Rudolf (1821-1902); Die Noth im Spessart. Das Buch im Original in der bayerischen Staatsbibkothek : https://www.bavarikon.de/object/bav:BSB-MDZ-00000BSB10380209?cq=Kliniker&p=1&lang=de
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter www.mainpost.de/geschichte_mspL.