
„Du kannst bestimmt mal mehr damit anfangen“, hatte Andrea Geßner gesagt, als sie Lotte Bayer, der Vorsitzenden des Historischen Vereins Gemünden und Umgebung drei Din-A4-Schulhefte in die Hand drückt. Sie enthielten Aufzeichnungen ihrer Großmutter Marie Steppan, die 1945 ihre Heimat Pschestein, in der Nähe von Karlsbad, verlassen musste. Als Vertriebene fand sie wie viele andere in Gemünden und Umgebung eine neue Heimat.
Lotte Bayer las sich in die handschriftlichen Notizen ein, übertrug sie und fasste sie zusammen. Als sie Geßner die gekürzte Version vorlas, war diese begeistert. Bayer war sich danach sicher, den Ton von Geßners Großmutter getroffen zu haben. Damit war die Grundlage für die Arbeitsgruppe „Flucht und Vertreibung“ gelegt, deren jahrelange Arbeit im jetzt veröffentlichten Buch „1000 Jahre Deutsch in Böhmen – Heimatvertriebene in Gemünden“ ihre Vollendung fand.
Erst Ausstellung, jetzt Buch
Ein erstes sichtbares Ergebnis hatte die jahrelange Beschäftigung mit der Geschichte der in Gemünden und Umgebung untergekommenen Heimatvertriebenen schon 2016 gezeitigt: die Ausstellung „Flucht und Vertreibung vor 70 Jahren“ im Kulturhaus. Für sie führten Bayer und ihre Mitstreiter, darunter Kreisheimatpfleger Bruno Schneider, Interviews mit Zeitzeugen, fragten nach alten Unterlagen und trugen eine Fülle von Material zusammen, das für die Ausstellung aufbereitet wurde. Schon damals war an die Organisatoren der Wunsch herangetragen worden, daraus doch ein Buch zu machen. Der Wunsch wurde nun verwirklicht.
Im ersten Teil des 237 Seiten starken Werkes fasst Gerhard Köhler 1000 Jahre gemeinsamer Geschichte zusammen, die Deutschland und Böhmen verbindet, war das heutige Tschechien doch jahrhundertelang selbstverständlicher Teil des Reiches. Im abschließenden dritten Teil gibt er eine kurze Übersicht über die Entwicklung des deutsch-tschechischen Verhältnisses nach 1945, das beide Staaten in der EU zusammenführte.
Bruno Schneider steuerte Fundstücke aus Archiven bei, etwa eine Beschreibung des Flüchtlingslagers Rieneck, oder eine Aufstellung, wie viele Personen noch Ende Januar 1957, also zwölf Jahre nach Kriegsende, im Lager in Höllrich untergebracht waren.
Flucht aus Schlesien oder Böhmen
Den ausführlichen Mittelteil des Buches jedoch bilden die Berichte von Zeitzeugen, die sich an Flucht und Vertreibung in den Jahren 1944 bis 1946 erinnern. Nicht alle Erzählungen beginnen in Böhmen oder Mähren, auch einige Berichte von aus Schlesien stammenden Familien fanden Aufnahme ins Buch. Etwa die Geschichte Franziska Richters, geb. Rossa, und ihrer Schwester Anni Bieniussa.

Sie wollten aus Oberschlesien nach Sachsen flüchten, zogen wegen des Chaos‘ dort nach der Bombardierung Dresdens aber weiter und kamen so nach Bayern. Anni kehrte mit weiteren Verwandten zwei Jahre nach dem Krieg wieder zurück ins mittlerweile polnische Oberschlesien. Franziska aber sollte in Bayern bleiben. Zur Sicherheit wollte man eine Anlaufstelle im Westen behalten. Mitte der 50er Jahre gelang den in Polen lebenden Rossas die endgültige Ausreise in die Bundesrepublik. Annis Familie pachtete eine Gaststätte in Weyersfeld. Als sie später die Metzgerei Althaus in Gemünden kauften, übernahm Franziska Richter, die heute in Gemünden lebt, die Führung des Gasthauses.
„Wir waren Ausgewiesene und keine Flüchtlinge“, heißt es im Bericht über Silvia Schneider, geb. Petschl, die Anfang 1946 aus ihrem Heimatort Strodenitz in der Nähe von Budweis in Tschechien vertrieben wurden. In einem Eisenbahnwaggon wurden sie nach Deutschland gebracht, wo sie in Gemünden aussteigen mussten. Das Landratsamt Gemünden wies ihnen das Dorf Fellen als neue Bleibe zu. Allein 295 Personen aus Böhmen und Schlesien waren im Herbst 1946 in Fellen untergebracht, das vor dem Krieg nur 614 Einwohner gehabt hatte.
70 Personen in Schaippach zwangseinquartiert
In dem kleinen Dörfchen Schaippach waren 70 Personen zwangseinquartiert. Der Empfang konnte durchaus frostig ausfallen, wie im Fall der Familie von Marie-Schulze-Kroiher. Andere dagegen öffneten den Neuankömmlingen schnell die Tür. Man lernte sich bald kennen und schätzen. „Aus Fremden wurden Freunde“, schließt sie.
Marie Steppan, deren Bericht den Anstoß gegeben hatte zur Beschäftigung mit Flucht und Vertreibung in Gemünden, hatte ihren Heimatort in Böhmen mit ihrem Sohn Toni verlassen müssen. Sie wurden in einem Flüchtlingslager in Bad Vilbel in Hessen untergebracht. Einige Jahre später übernahm ihr Sohn die Bäckerei Marquart in Langenprozelten. Die Familien kannten sich, seit Tonis älterer Bruder 1939 im Rahmen einer Kinderlandverschickung in Langenprozelten bei den Marquarts aufgenommen worden war.
Nach dem Tod ihres Mannes wandte sich Frau Marquart an die Steppans, weil sie wusste, dass Toni Bäcker gelernt hatte. Ihr eigener Sohn war im Krieg umgekommen. Toni sorgte dafür, dass die Bäckerei weitergeführt werden konnte, machte seinen Meister, heiratete später Maria, die Tochter der Marquarts, und bekam Tochter Andrea, die heute Geßner heißt.
Zwölfte Veröffentlichung des Historischen Vereins
Sie gab mit den Aufzeichnungen ihrer Großmutter nicht nur für die Anregung, sich in Gemünden mit Flucht und Vertreibung vor fast 75 Jahren zu beschäftigen. Sie besorgte auch das Layout des Buches, das der Historische Verein darüber herausgebracht hat. Pfarrer Richard Englert hat in einigen langen Nächten das Korrekturlesen besorgt.
„1000 Jahre Deutsche in Böhmen – Heimatvertriebene in Gemünden“ heißt das 237 Seiten starke Buch, das der Historische Verein Gemünden und Umgebung als zwölften Band seiner Schriftenreihe veröffentlicht hat. Zu beziehen ist es für zwölf Euro in der Tourist-Info in der Scherenbergstraße oder bei Lotte Bayer, Tel.: (0 95 31) 44 98, E-Mail: lottebayer.histverein@freenet.de