
Etwa 30 Besucher waren zur Eröffnung der von der Volkshochschule und dem Historischen Verein Gemünden und Umgebung organisierten Ausstellung „Flucht und Vertreibung vor 70 Jahren“ in das Foyer des Kulturhauses gekommen. Lotte Bayer, Vorsitzende des Historischen Vereins, begrüßte die Gäste, darunter Zeitzeugen, die die Vertreibung aus den Deutschen Ostgebieten am eigenen Leib erfahren mussten. Zur musikalischen Umrahmung spielte Magdalena Fink (Klarinette), Schülerin der Sing- und Musikschule, am Klavier begleitet von Schulleiter Mathias Weis.
Bürgermeister Lippert sagte zur Eröffnung: „Die Ereignisse um Flucht und Vertreibung sind aktueller denn je.“ Es gebe nach 70 Jahren Parallelen zur heutigen Situation mit den in Gemünden aufgenommenen Kriegsflüchtlingen. Obwohl heute manches anders sei, stellten sich doch die gleichen Fragen zu Ankunftszeit, Herkunft und den Möglichkeiten der Unterbringung.
Auch Bundestagsabgeordneter Bernd Rützel hob die lange Tradition hervor, die Gemünden mit Menschen hat, die ihre Heimat verlassen mussten. 4000 Vertriebene kamen damals in der vom Krieg gezeichneten Dreiflüssestadt an und mussten kurzfristig auf den Landkreis Gemünden verteilt werden. „Wenn man die Bilder von Zerstörung, Flucht und Vertreibung sieht, wird einem bewusst, wie privilegiert wir heute leben.“
Wie brutal und konsequent die Vertreibung im Sommer 1945 beispielsweise in Schlesien (Polen) und im Sudetenland (Tschechien) erfolgte, demonstrierte Werner Fella vom Historischen Verein. Als Gemeindediener mit der Dorfschelle verlas er nach einigen Glockenschlägen den Sonderbefehl für die deutschen Bürger zur sofortigen Räumung ihrer Anwesen in schlesischem Dialekt.
Demnach mussten alle Deutschen an einem Tag im Juli zwischen 6 und 9 Uhr ihre Häuser zwecks einer „Umsiedlung in ein Gebiet westlich der Neiße“ verlassen. Mitnehmen durfte jede Person nur 20 Kilogramm Reisegepäck. „Alles lebende und tote Hab und Gut bleibt im Besitz der polnischen Regierung“, hieß es im Befehl des Kommandanten.
Ähnlich penibel wurde die „Umsiedlung“ in Grasnitz (Tschechisch: Kraslice) im Sudetenland geregelt. Dort durften 60 Kilogramm Gepäck und zehn Kilogramm Handgepäck in den Transportzug mitgenommen werden. Alle übrigen Sachen waren in der Wohnung zu belassen.
Die von Lotte Bayer und Andrea Geßner verlesenen Aufzeichnungen der Zeitzeugen beschreiben auch die Details der Not, die Angst vor Repressalien und die Strapazen der Reise ins Ungewisse. In Gemünden befand sich das Barackenlager bis zum Bau der Häuser im Grautal auf dem Gelände des Sägewerks Hamm, in dem vorher Kriegsgefangene lebten. Laut Regierung von Unterfranken standen einem Bewohner in Gemünden 4,4 Quadratmeter zur Verfügung, in Hammelburg waren es nur 2,2 Quadratmeter.
Die 1906 geborene Marie Steppan berichtet in ihren in den 1980er Jahren aufgezeichneten Erinnerungen von schwierigen hygienischen Verhältnissen: „Es gab nur eine große Latrine ohne Trennwände“. Über den ersten Eindruck von einem Gang in die zerstörte Stadt heißt es: „Völlig fassungslos standen wir in der zerbombten Innenstadt. Mein Gott, wo haben sie uns da hingebracht.“
Der Zustrom ließ die Bevölkerung in Unterfranken um 25 Prozent wachsen. Fellens Einwohnerschaft stieg von 600 auf über 900 und Schappach hatte mit 400 plötzlich doppelt so viele Bürger wie vorher. Erlasse des Landratsamtes Gemünden und der Regierung von Unterfranken geben an Stellwänden Einblick in die Anstrengungen der Verwaltung.
Viele Fotos zeigen auch die heiteren Stunden im Lagerleben, beispielsweise wie musiziert und Fasching gefeiert wurde. Hochzeiten, Hausbau und das erste von Einheimischen und Flüchtlingen gemeinsam gefeierte Kirchweih- und Heimatfest sind Belege dafür. Viele der Neuankömmlinge halfen mit, Gemünden, die Region und das ganze Land wieder aufzubauen. Sie haben einen großen Teil zum Wirtschaftswunder beigetragen.
Die Ausstellung ist bis zum 18. Mai zu sehen. Gruppenführungen können bei Lotte Bayer, Tel. (0 93 51) 44 98, angemeldet werden.