
Wer bekommt das Sorgerecht? Wie darf der andere Elternteil Umgang mit dem Kind haben? Trennen sich Eltern, geht es um hochemotionale Fragen. Ein Sorgerechtsstreit kann sich über Jahre ziehen. Eine wichtige Rolle spielen dabei Jugendämter, Gerichte, Verfahrensbeistände und Gutachter. Wie in einem Fall aus dem Landkreis Main-Spessart.
Im vergangenen Juli berichtete diese Redaktion über eine Mutter, die symbolisch einen Kranz vor dem Amtsgericht Gemünden (Lkr. Main-Spessart) niedergelegt hatte, um auf "Missstände im System" hinzuweisen. Nach der Veröffentlichung meldeten sich vier weitere alleinerziehende Mütter aus Main-Spessart bei der Redaktion.
Vorwürfe: Kindeswohl aus den Augen verloren, Gewalterlebnisse nicht ernst genommen
Sie werfen Behörden und Verfahrensbeteiligten vor, ihnen die Kinder wegnehmen zu wollen, das Kindeswohl aus den Augen verloren zu haben und ein Klima der Angst zu erschaffen. Zwei Frauen behaupten, Gewalterlebnisse würden nicht ernst genommen. Behörden und Verfahrensbeteiligte sagen zu den Vorwürfen, dass sich in solch heiklen Verfahren eine Seite immer benachteiligt fühle.
Die Mütter, die sich meldeten, sind in einer Zwickmühle: Einerseits wollen sie, dass ihre Erfahrungen und Vorwürfe öffentlich werden, andererseits fürchten sie ernste Konsequenzen von beteiligten Stellen, wenn sie erkannt werden. Denn diese werden meist noch viele Jahre eine Rolle in ihrem Leben spielen. Die Redaktion anonymisiert die Fälle deshalb zum Schutz aller Betroffenen so weit als möglich. Behörden und Verfahrensbeteiligte erhielten ohne Nennung der konkreten Fälle Gelegenheit zur Stellungnahme. Um die Mütter zu schützen und weil die Vorwürfe sich nur am Rande gegen die Väter der Kinder richten, sah die Redaktion davon ab, auch diese zu hören.
Scheitert eine gütliche Einigung der Eltern, beginnt ein oft jahrelanger Streit. Sie habe den Eindruck, "dass Jugendämter, Familiengerichte, Gutachter und Verfahrensbeistände die Konflikte durch unprofessionelle Mediationen, einseitige Beratungen und ähnliches bewusst oder unbewusst verschlimmern", sagt eine betroffene Mutter. Systematisch werde mit den Ängsten der Beteiligten gespielt. Die Grünen-Bezirksrätin Bärbel Imhof aus Lohr, die eine Mutter seit dreieinhalb Jahren unterstützt, sagt: "Das ist eine Maschinerie aus Familiengericht, Jugendamt, Verfahrensbeiständen und Gutachtern." Eltern würden "von einem Gutachten ins nächste, von einer Klage in die nächste gehetzt". Familiengerichte, so Imhof, verließen sich in den meisten Fällen auf Gutachter und Jugendämter und hätten oft nicht die Expertise für eigene Entscheidungen.
Kritik: "Faktisch keine Kontrollinstanz"
Insbesondere die Rolle und "die Macht" der Jugendämter, die oft nicht neutral seien, sieht Imhof kritisch: "Es gibt für Jugendämter faktisch keine Kontrollinstanz." Dabei müsse es doch im Interesse der Staatsregierung sein, dass Jugendämter gut arbeiten. Johannes Hardenacke, Sprecher der Regierung von Unterfranken, widerspricht: Es gebe die Dienstaufsicht durch die Landräte und die Rechtsaufsicht durch die Regierung. Bei einer Beschwerde höre die Regierung das Jugendamt und lasse sich Unterlagen schicken. Zu dem konkreten Fall sagt Imhof: "Alle Beschwerden wurden ohne Prüfung mit wenigen lapidaren Sätzen zurückgewiesen."
Eine Mutter sagt ernüchtert über ihre Erfahrungen mit dem Jugendamt: "Ich bin hingegangen und habe gedacht, mir wird geholfen." Aber Gewaltvorwürfe seien nie ernst genommen worden. Sie solle aufhören, gegen den Vater zu schießen, sonst bekomme sie ihr Kind weggenommen, habe es geheißen. Sie gelte als "bindungsintolerant", würde klammern.
"Klar kannst du nicht loslassen, wenn du weißt, das Kind ist nicht gut aufgehoben", sagt eine andere Mutter. Der Leiter des Jugendamtes Main-Spessart, Thomas Götz, wiederum sagt: "Eine gesunde Bindung zwischen einer Mutter und ihrem Kind kann gar nicht stark genug sein." Nur Beeinflussungen seien problematisch. Alles, was sie gegen den Vater vorbringe, aber nicht belegbar sei, werde ihr negativ ausgelegt, beschreibt eine weitere Mutter.
Vorwurf: Mit Kindesentziehung gedroht
Drei Frauen sagen, dass empfohlen oder auch damit gedroht worden sei, ihnen ihre Kinder wegzunehmen. Einer entsetzten Mutter soll ein Anwalt gesagt haben, dass bei solchen Verfahren derartig oft mit Fremdunterbringung gedroht würde, dass es ihm schon gar nicht mehr auffalle. Die vierte Mutter berichtet, dass sie ihre Kinder schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat.
Jugendamt und Verfahrensbeiständin hätten sich massiv auf die Seite des Kindsvaters ziehen lassen, sagt eine Mutter. Der wollte das alleinige Sorgerecht und habe ihr unschöne Dinge unterstellt. Das erstellte Gutachten sei aus ihrer Sicht mängelbehaftet - aber für sie vernichtend. Von den Verfahrensbeteiligten seien Probleme auf einen partnerschaftlichen Konflikt reduziert worden. Die Situation sei extrem belastend gewesen: Arztbesuche seien teilweise nicht möglich gewesen, weil der Vater die Unterschrift verweigerte und das Gericht sie nicht ersetzt habe.
Das Jugendamt, so ihr Vorwurf, habe selbst Einwände anderer Behörden, was das Kindeswohl anbelangt, ignoriert: "Es interessiert mich überhaupt nicht, was Sie mir hier erzählen", soll ein Mitarbeiter des Amtes gesagt haben. "Kindeswohl", so ihr Eindruck, sei stets definiert worden als die Einigkeit der Eltern, nicht als das, was gut für das Kind sei. Sie habe zum Glück einen guten Anwalt gefunden. "Es war wirklich, als ob ich eine schlimme Straftat begangen hätte und da wieder rausgeboxt werden müsste." Am Ende habe sich sogar der Anwalt des Kindsvaters bei ihr entschuldigt.
Fall vor dem Verwaltungsgericht und im Petitionsausschuss
Der Fall der vierten Mutter, die ihre beiden Kinder seit Jahren nicht gesehen hat, war bereits Gegenstand vor dem Verwaltungsgericht in Würzburg sowie einer Petition an den Landtag. Jahrelang habe sie sich alleine um die Kinder gekümmert. Nachdem der Vater die beiden zu sich geholt habe, wollten die Kinder angeblich nichts mehr mit ihr zu tun haben. Es gebe keinerlei Kontakt, sagt die Mutter. Aufgrund "mangelhafter Gutachten" solle ihr jetzt auch das Sorgerecht entzogen werden.
Der Frau geschehe "grob Unrecht", sagt Grünen-Politikerin Bärbel Imhof. Wenn die Mutter Empathie habe, hätte sie dem Entzug des Sorgerechts bereits zugestimmt, soll die Verfahrensbeiständin geäußert haben. Imhof und die Mutter sind fassungslos. Es müsse generell "ganz gravierende Ursachen" haben, wenn Kinder jahrelang bei der Mutter gelebt hätten, dann aber lieber beim Vater bleiben und keinen Umgang mehr wollen, gibt Jugendamtsleiter Götz zu bedenken.
Kritik: Mutter nicht gehört worden
Die betroffene Mutter hat bereits viel Geld für Anwälte ausgegeben, auch zwei Dienstaufsichtsbeschwerden gegen das Jugendamt wurden gestellt. Imhofs Kritik: Eine ernsthafte fachliche Prüfung von Entscheidungen des Jugendamts durch die Regierung von Unterfranken finde nicht statt. Auch die Petition sei gescheitert, weil die Mutter gar nicht erst angehört worden sei und die Regierung stattdessen eins zu eins die Aussage des Jugendamts übernommen habe, sagt die Bezirksrätin.
Der Psychologe Robert Roth aus Zellingen, der seit etwa 30 Jahren als Verfahrensbeistand arbeitet, hatte sich nach dem Artikel dieser Redaktion im Juli ebenfalls gemeldet. Als "verlängerter Arm des Richters" arbeite er auf eine gütliche Einigung der Eltern zum Wohl des Kindes hin. Eltern lieferten sich nicht selten eine Schlammschlacht, sagt Roth. Er habe schon öfter erlebt, dass sich Verfahrensbeistände oder Jugendamtsmitarbeiter von einem Elternteil hätten einwickeln lassen, "und da nicht mehr so objektiv mit umgehen". "Das liege aber nicht am System, sondern an den Beteiligten. "Im Grunde passt das hier bei uns", ist Roth überzeugt.
Das Kindeswohl stehe an erster Stelle, sagt Main-Spessarts Jugendamtsleiter Thomas Götz. Parteiisch könne seine rechtsstaatliche Behörde gar nicht sein. Er räumt ein, dass Hinweise auf die Rechtslage, dass das Verhalten von Eltern in einem Streitfall zum Entzug des Sorgerechts führen könne, womöglich als Drohung aufgefasst würden. Aber: "Nicht das Jugendamt nimmt Kinder aus einer Familie, sondern das Familiengericht." Doch das seien "Extremfälle".
Katharina Stümpflen, die beim Landratsamt in Karlstadt den Fachbereich Soziale Dienste leitet, sagt: "Wir nehmen alle Vorwürfe immer sehr ernst." Das Jugendamt müsse aber immer schauen, ob diese sich erhärten lassen. Grundsätzlich, so Götz, habe ein Kind ein Recht auf Umgang mit Mutter wie Vater. Auf Vorwürfe, nur die Mütter würden etwa auf Erziehungsfähigkeit überprüft, sagt Götz: "Ich muss nicht erziehungsfähig sein, um ein Umgangsrecht zu haben." Das Umgangsrecht sei ein so hohes Gut, sagt Katharina Stümpflen, dass das Jugendamt selbst in Fällen von sexuellem Missbrauch lange am Familiengericht für einen Entzug kämpfen müsse. "Die Jugendämter leisten nach unserer Erkenntnis gute Arbeit", sagt Regierungssprecher Hardenacke. Pro Jugendamt in Unterfranken gebe es im Jahr nur eine bis fünf Beschwerden.
Auf eine umfangreiche Anfrage zu den Fällen beim Amtsgericht Gemünden antwortet Volker Büchs, ständiger Vertreter der Direktorin, vor allem mit Verweis auf Gesetze. Grundsätzlich solle das Gericht laut Familiengesetz "auf ein Einvernehmen der Beteiligten hinwirken, wenn dies dem Kindeswohl nicht widerspricht". Gelinge dies nicht, erfolge eine gerichtliche Entscheidung.
Sachverständigengutachten, so Jugendamtsleiter Götz, müsse das Gericht "kritisch würdigen". Wie die Arbeit von Gutachtern überprüft wird, darauf geht Richter Büchs nicht ein. Amtsgerichtsdirektorin Petra Müller-Manger räumt im Gespräch mit der Redaktion ein, dass Familienrichter oft jung seien und Lebenserfahrung in dem Bereich aber wichtig wäre. Allerdings gehörten Ausbildung und Schulungen im Familienrecht für Familienrichter in Gemünden dazu. Ihr bereite es aber Sorgen, so die Direktorin, dass in Bayern Familienrecht seit 2020 nicht mehr Teil des zweiten juristischen Staatsexamens ist.
Gutachter: Eltern steht der Beschwerdeweg vor Gericht offen
Eine Verfahrensbeiständin, mit den Vorwürfen konfrontiert, möchte sich auf Anfrage dazu nicht äußern. Sie könne aber Väter nennen, die es genau andersherum sähen. Der Stundensatz für ein familienpsychologisches Gutachten liegt aktuell bei 120 Euro. Ein Gutachter, dem eine Mutter vorwirft, er habe für teures Geld ein mangelhaftes Gutachten mit zweifelhafter Methodik aus Textbausteinen und Worthülsen zusammengeschustert, sagt auf Nachfrage: Er erstelle Gutachten nach den höchsten anerkannten Standards, Eltern stehe der Beschwerdeweg vor Gerichten offen. Was die Qualität der Begutachtungen betrifft: 2015 hatte eine Studie der IB-Hochschule Berlin ergeben, dass 75 Prozent aller Gutachten in familienrechtlichen Streitigkeiten in Deutschland mangelhaft sind.
Die Grünen-Landtagsabgeordnete Kerstin Celina, die die Petition der Mutter im Sozialausschuss vorgebracht hatte, sagt: "Mein Unbehagen, was die Macht der Jugendämter angeht, steigt seit Jahren stetig an." Für Bezirksrätin Imhof sind es keine Einzelfälle mehr: Es liege an einem mangelhaften System. Frauen, die um ihr Recht kämpften, würden als Querulantinnen abgestempelt und mundtot gemacht.
Barbara Stamm: Verantwortung für seelische Gesundheit der Kinder
Dass Jugendämter ohne Aufsicht seien, das kann Barbara Stamm, als Staatssekretärin und Sozialministerin 13 Jahre für die Ämter zuständig, nicht bestätigen. Auf höherer Ebene gebe es noch das Landesjugendamt und letztlich das Ministerium, sagt die CSU-Politikerin. Jugendämtern seien ohnehin in vielen Fällen die Hände gebunden, wenn Gerichte entscheiden. Sie hätten aber eine große Verantwortung für die seelische Gesundheit der Kinder, sagt Stamm. Deshalb müsse man genau hinschauen, ob sie personell und fachlich gut aufgestellt seien.
Als sie die Stellungnahmen hört, die die Redaktion von den Verfahrensbeteiligten erhalten hat, antwortet eine betroffene Mutter nur: "Die Kommentare der Zuständigen sind erschütternd, mehr fällt mir dazu nicht ein."
Nicht belegbar... sagt doch alles!
Man darf gespannt sein welches Amt als nächstes in die Schlagzeilen gerät.