Hätte es im mittelalterlichen Marktheidenfeld bereits ein Ordnungsamt gegeben: Hermann-Josef Väth hätte es geleitet. Ganz ohne Amt, dafür mit breitkrempigem Hut, schwarzem Umhang, Hellebarde und Lampe macht sich der 75-Jährige rund 500 Jahre später einmal pro Monat auf den Weg zu seinem Nebenjob: Nachtwächter.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit, im Sommer um 20 Uhr, im Winter bereits um 18 Uhr, begrüßt er in dieser Montur Gästegruppen am Treffpunkt "Alte Schmiede" in Marktheidenfeld, um ihnen anschließend anderthalb Stunden den Weg durch die Gassen der Altstadt zu leuchten und dabei vom Leben im mittelalterlichen Marktheidenfeld zu erzählen.
Start als Nachtwächter: Mit Anfangsnervosität und inhaltlich überladen
Väth, der Industriekaufmann gelernt und lange bei Warema gearbeitet hat, hat diese Zeit schon immer interessiert. In Erlenbach geboren und in Marktheidenfeld aufgewachsen, war er schon früh in der Stadt unterwegs. "Mein Vater war in den 50er Jahren Berichterstatter für die Zeitung, da bin ich auch schon mal mitgegangen", erzählt er. Zudem liebte er die Spessart-Sagen. Als Erwachsener, ab 2007, führte er selbst Schüler durch die Burg Rothenfels und tauchte ein in die Zeit der Ritter und des mittelalterlichen Adels. "Dann hat mich Inge Albert von der Stadt entdeckt und abgeworben", erzählt er lachend.
2016 dann gab er seine erste Nachtwächterführung in Marktheidenfeld. Damals noch mit Anfangsnervosität und überladen mit viel zu viel Inhalt. "Da hab ich schnell abgespeckt", erzählt er. Schließlich will er seine Leute bei der Stange halten. "Ich habe mir viel angelesen. Das war eine spannende Zeit", so Väth. Hauptaufgabe des Nachtwächters war zur Sperrstunde, die Gaststätten leerzuräumen und zu beaufsichtigen, dass nirgendwo ein Feuer ausbrach.
Respekteinflößend musste der schwarz gekleidete Mann dazu sein. Und kommandieren musste er können. "Allerdings stand der Nachtwächter von der Bezahlung her eher auf der Stufe eines Viehhirten", erläutert Väth. Inwiefern er sich selbst mit der Figur identifizieren kann? "Als ehemaliger Burgwart und Führungskraft schon", bestätigt er lachend. Allerdings lässt er das nicht seine Gäste spüren, sollten die mal nicht ganz bei der Sache sein. "Wenn ich merke, die Leute langweilen sich oder quatschen lieber mit dem Nachbarn, dann mache ich nur Pflichtprogramm, ohne Zugabe", so Väth.
Am liebsten sind ihm Kindergruppen im Grundschulalter. Neugierig und wissbegierig seien die und immer mit ungewöhnlichen Fragen im Gepäck. Eine Mischung aus Unterhaltung und Wissen wolle er mit seinen Führungen vermitteln. Und so hat er neben dem stadtgeschichtlichen auch einige Anekdoten im Gepäck. Angekommen am Main erzählt er zum Beispiel die Geschichte von Thekla, die ihr Grundstück nicht für den Bau der Bahnlinie auf der gegenüberliegenden Mainseite hergeben wollte. Schließlich wolle sie nicht mehrmals am Tag ihr Scheunentor auf und zu machen, wenn der Zug kommt.
In der Wortwahl darf's auch mal deftig werden
In seiner Wortwahl dürfe der Nachtwächter auch mal deftig werden und Wörter wie "Weiber" und "Brunzen" sagen, erläutert Väth. Zum Beispiel, wenn es um die damalige Hygiene und die Einführung der Stehbrunzhose ging. Vor allem bei Bäuerinnen war die Unterhosenart mit Öffnung im Schritt damals beliebt, da so das Wasserlassen unmittelbar bei der Feldarbeit verrichtet werden konnte.
Große Augen aus seinem Publikum erntet der Nachtwächter auch meist am Lohgraben, wo er von den Gerbern erzählt, die hier früher mit einer Mischung aus Urin, Taubenkot und Eichenrinde Kuhhäute zu Leder verarbeiteten. Er habe durchaus auch Spaß am Schockieren, gesteht Väth und setzt gleich die Geschichte über die Marktheidenfelder Knochenmühle drauf, in der damals Dynamit, Dünger, Kerzen und Gelatine entstanden.
Liebe zur Dunkelheit entdeckt
Ob seine Geschichten aus ihm heraussprudeln oder beschwerlich daher kommen – das sei auch immer von seinen Gästen abhängig. "Manche sind so trocken, dass man über die eigenen Scherze nicht lachen kann", erzählt er.
Was ihm bleibt von seinen Führungen? "Ich habe wieder mehr Gefallen an der Dunkelheit gefunden", erzählt er. Auch an den Sternbildern, die man so viel eindrucksvoller sieht. Um das zu demonstrieren, macht er seine Lampe an geeigneter Stelle auch gerne mal aus. Allerdings werde es immer schwieriger, richtig dunkle Stellen in der Stadt zu finden. Bis vor ein paar Jahren noch war es das in der kleinen Gasse, die in der Mitteltorstraße entlang der alten Stadtmauer abzweigt. Dann wurde die Gasse mit Bodenstrahlern beleuchtet. "Ich habe mich bei der Stadt beschwert", so Väth. Mit Erfolg: Mittlerweile kann er das Licht in der Gasse mit einem Schlüssel für kurze Zeit ausschalten - für den Vorführeffekt und auch ein bisschen zum Gruseln.