Die häufigste Diagnose in der Klinik von Christel Gaida: abgerissener Arm, fehlendes Bein, herausgefallene Augen. Manche Patientin kommt auch kopflos, dann sucht Christel Gaida in ihrem Porzellankopf-Vorrat nach Ersatz. Am liebsten hat die Doktorin ja alte und betagte Patientinnen auf ihrem Behandlungstisch. „Weil die einmalig sind, da hat jede ihr eigenes Gesicht und ihr eigenes Leben.“ Doch gleich welchen Alters, immer ist das Ziel: helfen.
Wobei – manchmal muss die Chefärztin schon bei der Anamnese sagen, dass nichts mehr zu machen ist. Wenn etwa an einer Krabbelpuppe zu viel abgebrochen ist. Und auch starr gewordene Augen sind ein heikler Fall. Und Lider, die sich nicht mehr schließen. „Beweglich machen, das kann ich nicht“, sagt Christel Gaida. Die Leistungen, die sie in ihrem Krankenhaus bietet: Unfallchirurgie, Kosmetische Operationen, Schönheitsoperationen, Haartransplantationen, Facelifting und Innere Medizin wie Sprachstörungen.
„Es hat als Gag begonnen“, sagt Christel Gaidas Kompagnon und Lebensgefährte, Dietmar Hirn. Als Ende 2017 in Karlstadt (Lkr. Main-Spessart) das Kreiskrankenhaus geschlossen wurde, war dem Kaufmann in Frührente über Nacht die Idee gekommen: „Wenn eine Klinik zugesperrt wird, wird eben eine andere eröffnet: Machen wir eine Puppenklinik auf.“
Bis dahin war die Puppenreparatur ja ein Hobby, eine kleine Nebensache ihres kleinen Ladens, des „Kunsthimmels“. Im Sommer 2018 luden Gaida und Hirn, die Chefärztin und der Kaufmännische Klinikleiter, in der Puppenklinik Karlstadt zum Tag der offenen Tür. Die Zeitung berichtete – „ab dem Zeitpunkt war die Hölle los“, sagt Hirn. Anfragen kommen seitdem aus ganz Unterfranken, dass in Karlstadt verletzten und kranken Puppen geholfen wird, spricht sich rum. „Mindestens 150 Operationen haben wir hinter uns“, rechnet Hirn. „Das macht hier sonst ja keiner weit und breit“, sagt Christel Gaida.
Die 74-Jährige kümmert sich um abgerissene Finger, Löcher im Kopf, ausgefallene Haare, Sprünge im Porzellan. Stoffpuppen bekommen bei ihr einen neuen Körper. Risse und Löcher füllt sie vorsichtig mit Zelluloid auf, bei ausgerenkten Gelenken repariert sie mit einer kleinen Zange das Gestänge im Inneren und spannt die Gummibänder neu.
Gaida und Hirn leben seit zehn Jahren in Karlstadt. Gaida kommt aus dem Westerwald, Hirn war Geschäftsführer eines Unternehmens in München – sie fanden sich und trafen sich in der Mitte. 2012 machten sie einen kleinen Laden für Handarbeiten, Bilder und Handwerkliches auf. Christel Gaida, gelernte Apothekenhelferin und Mutter von vier Kindern, hat ein Bastel-Gen. Sie häkelt, strickt, näht, malt, fotografiert, schreibt Geschichten und Verse – und flickt seit drei Jahrzehnten eben auch Puppen.
Sie sei die Jüngste in der Familie gewesen, erzählt sie, und hätte lieber „auch gerne kleine Geschwister gehabt“ – so wurden die Puppen „mein ein und alles“. Ihre Mutter verschenkte sie irgendwann in der Nachbarschaft weiter. Und als Christel Gaida eines Tages sah, wie lausig und unachtsam anderswo mit ihren alten Schützlingen und Spielgefährten umgegangen wurde, war sie erschüttert. Mit 40 kaufte sie sich eine neue Puppe – und sammelte ab dann.
„Viele Ältere bringen ihre Kindheitserinnerungen“, sagt die 74-Jährige. Sie versucht die Erinnerungen zu retten. Am liebsten malt sie ja Gesichter, lässt schöne alte Puppen durch feine Pinselstriche wieder lächeln. „Aber das möchten viele Kunden nicht, sie möchten das alte, bekannte Gesicht.“ Auch wenn es vielleicht ein bisschen ausgeblichen ist. „An dieser einen bestimmten Puppe hängt eben ein hoher emotionaler Wert.“
Für Spezialfälle und schwer verletzte Patienten sitzt die Chefärztin oft nächtelang am Computer und sucht im Internet nach Ersatzteilen. Sie hat auch schon Formen und Schnittmuster gekauft, um Gliedmaße und Köpfe aus Porzellan zu gießen oder einen Körper aus Stoff zu nähen. „Die deutschen Hersteller wie Schildkröt geben ja keine Ersatzteile mehr raus“, sagt Dietmar Hirn. Der 63-Jährige hat schon mal einen Aufruf gestartet, keine alten, ausrangierten Puppen wegzuschmeißen, sondern lieber in die Klinik zu schicken – wegen der Spenderorgane.
Christel Gaida rettet übrigens nicht nur Puppen. Auch Stoffkrokodile und Teddybären nimmt sie ambulant oder stationär auf. Ein riesengroßer Affe brauchte neue Pfoten. Und aus einem Steiff-Bären, der Jahrzehnte offenbar im Keller vor sich hin gemodert war und den sie nur mal eben reinigen sollte, musste sie erst einmal alle stinkenden Innereien herausholen. „Den musste ich richtig operieren und neu füllen.“
Die älteste Patientin in der Klinik bislang war eine Pappmaché-Puppe von 1886. „Diffizil“, sagt Christel Gaida. Den alten Kopf arbeitete sie auf und modellierte ihn neu. Der größte Auftrag? Pflege und Reinigung von 30 Porzellanpuppen aus einer Familie. „Das war mühsam!“, sagt Gaida, „richtig kompliziert und aufwendig.“ Weil die Kleider alle extrem eng am Körper festgemacht waren.
Apropos Kleidung: „Ungewaschen und nackt kommt hier keine Puppe raus!“, sagt Dietmar Hirn. Bevor ein genesener Patient mit bloßem Hintern entlassen wird, bekommt er wenigstens eine Unterhose gehäkelt oder gestrickt. Und auf Wunsch gibt's Mobiliar dazu. Dietmar Hirns Hobby: Holzarbeiten. Aber nur aus Birke oder Pappel: „Pressspan und China-Kunstholz ist bei uns tabu.“
Warum sie das Ganze machen? Sicher nicht der Einnahmen wegen – „die sollen und können nur die Kosten decken“, sagt der Finanzchef der Puppenklinik. Christel Gaida sagt: „Das Schönste ist, zu sehen: Wir konnten helfen! Und unsere größte Freude sind glückliche Kinder.“
Inzwischen wenden sich Puppenliebhaber aus dem Odenwald, dem Frankfurter Raum, Hannover oder Berlin an die Karlstadter Puppenklinik. Zuletzt war so viel zu tun, dass sich die Chefärztin vor Weihnachten Urlaub verordnet hat – „weil die Wohnung aussah wie eine Werkstatt!“. Im Januar geht es dann weiter mit der Behandlung – neun Patienten sind schon eingeliefert.