
Die Ankunft der Amerikaner kündigte sich in Karlstadt aus der Luft an. Am 14. Februar 1945 beschossen alliierte Flugzeuge die Stadt und von diesem Moment an bestimmte der Fliegeralarm das Leben. Als dann wenige Tage später ein Fronturlauberzug südlich der Stadt beschossen und mit Bomben beworfen wurde, starben dabei sechs Menschen und mehr als 20 Personen wurden verletzt. Jetzt war jedem der Ernst der Lage bewusst.
Ein kurz danach fehlgeschlagener Tieffliegerangriff auf den Bahnübergang am Kloster und die Notlandung eines amerikanischen Flugzeuges bei Obersfeld ließen dennoch einige Anhänger des NS-Regimes an den Endsieg glauben. Es waren aber, wie sich herausstellen sollte, die Vorboten des entsetzlichen Bombardements der Alliierten am 16. März auf Würzburg. Als bereits in der Nacht aus dem zerstörten Würzburg die ersten Verwundeten und Schwerverletzten in der Stadt eintrafen, konnten sie nur notdürftig versorgt werden.
Überall in der Stadt fehlte es an den notwendigen Medikamenten und an Verbandsmaterial. Die Alte Schule am Kirchplatz und die St.-Georg-Schule fanden Verwendung als Lazarett, und als dies zu gefährlich wurde, verlegte man die Kranken und Verletzten in den Keller des Pfarrhauses. Schlimm stand es um die Versorgung der Kranken und Verletzten. Ein warmes Essen für alle wurde zunehmend zu einer Seltenheit. Kleine Brotrationen und eine Tasse Kaffee für zwei Personen stillten den größten Hunger.
Die wenigen Betten bestanden aus Holzgestellen oder alten Korbsesseln. Viele schliefen auf dem Boden, der notdürftig mit Stroh ausgelegt worden war. Die zentrale Anlaufstelle für alle Helfer und die Verletzten, die sich selbstständig fortbewegen konnten, waren die Räumlichkeiten der Fränkischen Malzfabrik. Ihr Keller diente als Luftschutzraum, Hauptverbandplatz und Essensausgabe. Viele der alten Gewölbekeller in der Altstadt gaben den Anwohnern Schutz.
Für die Karlstadter Bevölkerung begannen die unmittelbaren Kriegshandlungen mit allen persönlichen Einschränkungen am 25. März. Rückflutende Soldaten und Zivilisten brachten die Gewissheit, dass die Amerikaner Aschaffenburg besetzt hatten und auf dem weiteren Weg nach Osten waren. Der Karlstadter Volkssturm, gerade noch in einer Übung, fand sich wenig später mit Ordnungsaufgaben und der Überprüfung der durchziehenden Menschen beschäftigt. Zum fragwürdigen Schutz der Stadt errichtete der Volkssturm aus den umliegenden Gemeinden unter der Leitung des Zellinger Stabsarztes Dr. Robert Mühl-Kühner Verteidigungsstellungen, und zwar bei Wiesenfeld, Stadelhofen und in Richtung Gambach.
Panzersperren aus Gartentüren und Toren
Panzersperren aus Gartentüren und Toren sollten ein Vorankommen der amerikanischen Panzer erschweren. Auf den Hängen östlich der Stadt begann der hektische Ausbau von Schutzgräben, und in den Kellern der Stadt erwarteten Panzerfaustschützen das Heranrücken der Amerikaner. Gleichzeitig erklärte man Karlstadt zum Hauptstützpunkt der Division und bereitete für die Ankunft der Amerikaner die Sprengung der Mainbrücke vor. Die Stadt sollte unter allen Umständen auf die Verteidigung bis zum letzten Mann eingerichtet werden.

Am 27. März überschlugen sich Ereignisse. Gegen 6 Uhr am frühen Morgen ist Gefechtslärm aus nordwestlicher Richtung zu hören, aus Marktheidenfeld kommt die Nachricht, dass amerikanische Panzer über Lohr bis nach Gemünden vorgestoßen sind, und Vertreter der Stadt versuchen in einem verzweifelten Appell, den Kampf-Kommandanten Mühl-Kühner von einer Brückensprengung abzubringen. Vergeblich. Noch während der Besprechung erschüttert eine heftige Detonation die Stadt. Ohne Vorwarnung hatte General Weisenberger den Befehl zur Sprengung der Mainbrücke gegeben.
Damit war auch die Stromversorgung des Mühlbacher Wasserwerkes unterbrochen. Eine Versorgung der Stadt mit Löschwasser war nicht mehr gegeben. Im Brandfall musste auf die städtischen Brunnen und auf das Mainwasser zurückgegriffen werden. Einige Feuerwehrmänner unter Leitung von Konrad Biener schafften in einer mutigen Aktion Öl und Treibstoff zur Notstromversorgung ins Wasserwerk und hofften, damit im Notfall wenigstens die Löschwasserversorgung aufrechterhalten zu können.
Nach einigen hektischen Tagen in der Stadt begann die Beschießung durch die Amerikaner am 3. April und dauerte, mit Unterbrechungen, drei Tage. Einige flüchteten sich in den Bachgrund, andere fanden im Werntal Unterschlupf. Wer blieb, saß allein oder mit seinen Angehörigen in einem der alten Keller. Einer dieser Keller, in denen man sich relativ sicher fühlte, war im Gasthof „Alte Brauerei“. In der Nacht auf den 7. April suchten dort auch Hugo Bender und Maria Kraft Schutz. Maria Kraft, damals 20 Jahre alt, kam als Evakuierte aus Köln nach Karlstadt und kannte hier so gut wie niemanden.
Als gegen drei Uhr morgens Konrad Biener bei einem Kontrollgang durch die brennende Stadt im Brauereikeller eintraf, drängte er auch hier darauf, die weiße Fahne als Zeichen der Übergabe an weiteren Gebäuden der Stadt zu hissen. Zuvor hatte er, wie er den Verängstigten mitteilte, am Marktplatz bereits sieben Männer auf die Übergabe der Stadt eingeschworen. Nun war er auf der Suche nach weiteren Mutigen, die eine weiße Fahne auf dem Katzenturm (Oberer Stadtturm) anbringen sollten.
Es dauerte eine Weile, bis sein Appell Erfolg hatte. Einige hatten schlichtweg Angst, während des Beschusses auf den Turm zu steigen. Andere fürchteten, im Falle eines Scheiterns als Volksverräter hingerichtet zu werden. Wieder andere dachten an Repressalien nach dem Einmarsch der Amerikaner aus der eigenen Bevölkerung wegen des Verrats am deutschen Volk. Als Frau Leckert ein weißes Betttuch brachte, fanden sich einige junge Leute, darunter Hugo Bender und Maria Kraft, die den Mut aufbrachten, damit den Katzenturm zu besteigen, um im Dunkel der Nacht das Tuch als Zeichen der Übergabe anzubringen.
Maria Kraft erinnert sich daran, dass sie und Hugo Bender von den Karlstadtern im Keller mehr oder weniger dazu gedrängt worden waren, die Fahne auf den Turm zu tragen. Der Grund: Sie waren jung, von auswärts und hatten keine Angehörigen in der Stadt, die man für diesen Akt der Kapitulation in späteren Jahren noch als „Volksverräter“ hätte beschimpfen können. Mit „vollen Hosen“ seien sie mit anderen hinaufgestiegen, aber mutig sei das nicht gewesen. Zur gleichen Zeit hing auch am Maintorturm die weiße Fahne. Den ganzen Tag blieb es seltsam ruhig in der Stadt. Die Stille wurde gegen 17 Uhr von den ratternden Ketten der einfahrenden amerikanischen Panzer unterbrochen. Für Karlstadt war der Krieg vorbei.
Neuordnung des Gemeinwesens
Nach der Besetzung der Stadt durch die amerikanische Armee war eine der vorrangigen Aufgaben der Aufbau einer funktionierenden Verwaltung und die Neuordnung des Gemeinwesens. Fast täglich ergingen neue Anordnungen. Eine der ersten Maßnahmen war die Ausstellung von Passierscheinen. Besitzer eines Autos, Fuhrwerks oder Fahrrads benötigten eine amtliche Beglaubigung über die Registrierung ihres Fahrzeuges. Seit Kriegsende nahm der Diebstahl von Fahrrädern und von Pferden gezogenen Fahrzeugen ständig zu. Um dem zu begegnen, musste jeder, der sich mit einem solchen Fahrzeug auf die Straße begab, eine vom Bürgermeister ausgestellte Eigentumsbescheinigung mit sich führen.

In der Zeit nach dem Zusammenbruch konnte man alles gebrauchen, alles fand irgendeine Verwendung. Vor allem Wehrmachtseinrichtungen oder Wehrmachtseigentum galten plötzlich als herrenlos und wurden „organisiert“. Am 15. Mai 1945 informierte ein amerikanischer Offizier den amtierenden Bürgermeister Brunner, dass an der Gemeindegrenze zu Eußenheim ein deutscher Lastkraftwagen stehe, der jedoch noch typhusverseucht sei. Nach gründlicher Desinfektion des Wagens machte er diesen der Stadt zum Geschenk. Als man das Fahrzeug abholen wollte, stellte man enttäuscht fest, dass es schon zur Hälfte von der Eußenheimer Bevölkerung demontiert worden und eine Inbetriebnahme nicht mehr möglich war.

Ein weiterer Lastkraftwagen stand in Karlstadt und wurde umgehend in die Werkstätte Adelhardt gebracht, da die Bevölkerung das Fahrzeug ebenfalls ausgeplündert hatte. Nicht viel anders erging es den Fernmeldeeinrichtungen der ehemaligen Wehrmacht. Telegrafenmasten, Leitungsdrähte und Feldkabel wurden abmontiert und für eigene Zwecke verwendet.
Zum Autor: Manfred Schneider ist Mitglied im Historischen Verein Karlstadt und war dort zwei Jahrzehnte in der Vorstandschaft tätig. Als Autor der Stadtchronik „Karlstadt – Eine Stadt in Franken; 1945 bis 2000 hat er darüber hinaus eine Vielzahl von Beiträgen zur Stadtgeschichte von Karlstadt verfasst. Seit 1999 bis 2022 war er Stadtarchivpfleger von Karlstadt und seinen Stadtteilen.
Literatur: Schneider, Manfred: „Karlstadt - eine Stadt in Franken. Stadtchronik Teil 2, 1945 bis ins neue Jahrttausend“. Stadtarchiv Karlstadt: Tagebuchaufzeichnungen von Franz Schwarz und Konrad Biener.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter https://www.mainpost.de/dossier/geschichte-der-region-main-spessart/