
Wie sich die Ereignisse des 1. Weltkriegs vor Ort auswirkten, ist für die Region Marktheidenfeld gut dokumentiert. Von Anfang an war man sich nämlich der besonderen Bedeutung dieses Krieges bewusst und legte Wert auf eine entsprechende Dokumentation. Und Material gibt es in Hülle und Fülle: Feldpostbriefe, Memoiren, schon früh erschienene illustrierte Darstellungen, aber auch zeitgenössische örtliche Chroniken.

Ausdrücklich forderte auch eine Ministerialentschließung des bayerischen Ministeriums für Kirchen- und Schul-Angelegenheiten vom 3. Mai 1917 zur Dokumentation auf. Üblicherweise fiel diese Aufgabe einem der örtlichen Lehrer zu. In Marktheidenfeld wurde diese Aufgabe dem Hauptlehrer Leonhard Vogt zugeteilt. Im Auftrag der Gemeinde führte er so von August 1914 bis zum Juli 1919 Monat für Monat ein Kriegs-Tagebuch.
Die nach der Jahrhundertwende zunehmenden internationalen Spannungen hatten zu einer explosiven Gemengelage und schließlich zum 1. Weltkrieg geführt. Mit einem Krieg hatte man angesichts der Spannungen spätestens seit 1911 und den Balkankriegen 1912/13 gerechnet. Nachdem viele Jahre die These von der alleinigen oder überwiegenden deutschen Kriegsschuld galt, stellte der australische Historiker Christopher Clark in seinem 2012 auf Deutsch erschienenen Buch „Die Schlafwandler“ heraus, dass der Ausbruch des Krieges keinesfalls unausweichlich, keineswegs ein Ergebnis zielbewusster Politik, sondern die Folge vielschichtiger und teilweise intransparenter Entscheidungsprozesse der involvierten Mächte war.
Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
Die Diskussion hält an. Wie auch immer, der 1. Weltkrieg wird heute weitgehend übereinstimmend als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts verstanden. Seine Folgen prägen unseren Kontinent und unser Bewusstsein bis heute. Der erste totale Krieg in der Geschichte der Menschheit verlangte den beteiligten Völkern, den Soldaten an der Front, aber auch der gesamten Bevölkerung, äußerste Anstrengungen und größte Opfer ab. Stärker als in Deutschland, das selbst weitgehend von kriegerischen Ereignissen verschont blieb, ist dieser Krieg vor allem in den westeuropäischen Staaten und in Italien als der „Große Krieg“, „grande guerre“, in der allgemeinen Erinnerung geblieben, bis heute. Die Gedenkstätten Verdun und Rovereto sind dafür besondere Beispiele.
Mit dem Ersten Weltkrieg zerbrachen die multinationalen Reiche Österreich-Ungarn, Russland und Deutschland. Es setzte sich das auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruhende Nationalstaatsprinzip durch. In Europa waren die Volksgrenzen nicht klar gezogen; eine klare Abgrenzung war nur mit Schwierigkeiten möglich und aus politischen Gründen wurde das Prinzip auch hier und da missachtet. Flucht, Vertreibung und Nationalisierungspolitik gegenüber den oft recht großen Minderheiten waren die Folge. Die Feindschaft zwischen Nachbarstaaten und ein ausgeprägter Nationalismus waren damit vorprogrammiert. Eine schwere Belastung der Nachkriegszeit.
Zwei Staaten rückten nach dem Ersten Weltkrieg in die erste Reihe. Einmal die USA, die sich ihrer besonderen Verantwortung für die Weltpolitik bewusst wurde, und zum anderen Russland, das nach dem Sieg der Bolschewiken 1917 die bestehende Gesellschaftsordnung in Frage stellte.

Mit Begeisterung reagierte man auch in Marktheidenfeld auf den Ausbruch des Krieges, den die Mobilmachung und Kriegserklärung an Russland am 1. August 1914 einleitete. „Keine Niedergeschlagenheit, nein, freudige Zuversicht konnte man bei den meisten Leuten wahrnehmen.“ Der Krieg wurde allgemein als unabwendbares Ereignis verstanden. Eine allgemeine Kriegsbegeisterung schwemmte alle Befürchtungen und Ängste hinweg. Nicht zuletzt, weil man in Erinnerung an den deutsch-französischen Krieg 1870/71 und in völliger Fehleinschätzung der Gesamtsituation davon ausging, dass der Krieg nur kurze Zeit dauern würde. „Unter dem Gesange ´Deutschland, Deutschland über alles´ dampfte der Zug ab“ – am 4. August erfolgte die Abreise an die Front.
Und zunächst verlief alles nach Plan. Im August und September wurden die Siege in Belgien, in Lothringen und bei Tannenberg bejubelt, allerdings trafen auch schon die ersten Meldungen von Verwundungen ein. Am 14. September wurde der erste Gefallene aus Marktheidenfeld gemeldet. Und schon im November folgten schnell aufeinander weitere traurige Meldungen.

Gleich zu Kriegsbeginn errichtete man in Marktheidenfeld neben dem als Lazarett mitbenutzten Krankenhaus ein „Vereinslazarett” - ein Lazarett der örtlichen Rotkreuzgemeinschaften - in der Obertorschule, das im Oktober 1915, um den Schulbetrieb nicht länger zu erschweren, in die Gastwirtschaft „Krone” verlegt wurde. Die verwundeten Soldaten, die hier untergebracht waren, vermochten ein realistisches Bild vom Krieg zu vermitteln und dämpften die Begeisterung schnell.
Zermürbender Stellungskrieg
Der Bewegungskrieg mit schnellen Fortschritten blieb schon bald stecken, der Krieg wurde zum zermürbenden Stellungskrieg. Und dann vergingen Monat um Monat, Jahr um Jahr und ein Ende des Krieges war nicht in Sicht. Dazu der Kriegseintritt weiterer Staaten, wie beispielsweise der Italiens im Mai 1915. Schon im August 1915 vermerkt Vogt: „Zahlreiche Urlauber von der Westfront […] erzählen haarsträubende Dinge von den schrecklichen Kämpfen und Ereignissen in den Schützengräben. Das ist kein ehrlicher Krieg mehr, wie solcher in früheren Zeiten durchgeführt wurde, sondern Massenmord.“ Ernüchterung machte sich breit und die Hoffnung richtete sich auf einen baldigen Frieden.
Ernüchternd wirkte auch die sich zunehmend verschlechternde Versorgung vor Ort. Es kam zu Warenmangel und Preissteigerungen, schließlich zur Rationierung der Lebensmittel und kriegswichtiger Waren und zum Einsatz von Ersatzstoffen, vor allem bei Lederprodukten, und zur Aktivierung der Selbstversorgung. Die Vermittlung des Schlachtviehs für den Heeresbedarf übernahm der landwirtschaftliche Kreisausschuss, in dem sich Andreas Fertig (1854-1925) aus Eichenfürst besonders engagierte.
Für die Erfassung und Verteilung der Lebensmittel wurde im Mai 1916 der Kommunalverband Marktheidenfeld für den gleichnamigen Bezirk gegründet, der ab Mai 1917 sogar einen 50-Pfennig-Geldschein drucken und 1918 5- und 10-Pfennig-Münzen aus Eisen prägen ließ, um dem Mangel an Kleingeld zu begegnen.
Zu beklagen hatte der Chronist neben der schwierigen Versorgungslage, nicht zuletzt wegen der englischen Blockade, auch die üblichen negativen Folgen eines reglementierten Marktes, das Hamstern von Waren und das Entstehen eines Schwarzen Marktes. Geklagt wird auch über die Disziplinlosigkeit von Kindern und Jugendlichen, da die Väter abwesend waren. Schließlich waren bis zu 300 Männer aus Marktheidenfeld eingezogen und die Arbeit der abwesenden Männer musste immer mehr von den Frauen organisiert und übernommen werden. Beklagt wird in einer Zeitungsmeldung vom März 1917 die rapide Zunahme von Ehescheidungen.
Um dem Mangel an Arbeitskräften abzuhelfen, wurden seit 22. Juli 1915 Kriegsgefangene zugewiesen. Zunächst kamen französische Kriegsgefangene für die anstehenden Erntearbeiten. Ab Juli 1917 wurde in einem der Felsenkeller ein Gefängnis für Kriegsgefangene eingerichtet. Als deutliches Signal für den Ernst der Lage empfand man das Abnehmen und das Zerschlagen der jüngeren Kirchenglocken im Juli 1917.
Aber es galt durchzuhalten, trotz der Notsituation: „Gleichwohl besteht allerorts eine Friedenssehnsucht“, stellt der Chronist im August 1917 fest. Und die viel beschworene Einheit begann zu bröckeln, zunehmend entstand Zwietracht: Es vertiefte sich der Gegensatz von Stadt und Land. Es kam im Januar 1918 zu Demonstrationen und Streiks der Arbeiterschaft.
Um die Ernährung von Kindern in den großen Städten sicherzustellen, wurden sie vorübergehend in ländlichen Gebieten untergebracht, so beispielsweise Kinder aus Nürnberg in Karbach. Der Chronist vermerkt im Mai 1917 Klagen über die Stadtkinder. „Die Kost ist diesen nicht gut genug. Manche vermissen ihr warmes Bad; viele wollen nichts arbeiten.“
Im November 1917 setzten sich mit der „Oktoberrevolution“ die Kommunisten in Russland als die entscheidende Kraft durch. Im November 1917 begannen die Friedensverhandlungen mit Russland, die schließlich Anfang März 1918 mit dem Vertrag von Brest-Littowsk eine Entlastung im Osten brachten. Dennoch sah Vogt schon im Frühjahr 1918 schwere Zeiten vorher: „Ein weiteres Kriegsjahr würde die Not am Materialien ins Unendliche steigern“ und „Ein weiterer Kriegswinter würde für unsere wirtschaftlichen Verhältnisse sehr schlimm werden.“
Hoffnung wurde gesetzt auf die Ende März eingeleitete Offensive im Westen, die aber keinen Durchbruch brachte. Ab August 1918 wurde mit Berichten über Rückschläge an der Front die Gesamtsituation zunehmend pessimistisch eingeschätzt. „Vor der gewaltigen Übermacht der Feinde mußten die Deutschen alles eroberte Gelände der Frühjahrs-Offensive wieder aufgeben, kein Wunder, daß das Volk von einer großen Niedergeschlagenheit ergriffen wurde.“
Dazu kam noch im Herbst die Auswirkung der „Spanischen Grippe“, die ab Oktober 1918 auch in Marktheidenfeld registriert wurde. Schließlich standen am Ende der mit gewaltigen Anstrengungen und ungeheuren Opfern durchgestandenen Kriegsjahre der Sturz der Monarchien, die Ausrufung der Republik (9. November 1918), ein Waffenstillstand (11. November 1918), der die Demobilisierung forderte, und im Juni 1919 mit dem Versailler Vertrag ein als „Schmach und Schande” empfundener Friede. Der Chronist dazu schon im November 1919: „Armes, armes Deutschland!“
331 Kriegsteilnehmer konnte Marktheidenfeld verzeichnen, 48 davon kamen nicht mehr in die Heimat zurück.
Literatur: Leonhard Vogt, Kriegs-Tagebuch für die Gemeinde Marktheidenfeld a. M., Marktheidenfeld 2004 (Veröffentlichung des HV Marktheidenfeld und Umgebung e.V. 16); Bildersammlung Leonhard Vogt im Stadtarchiv Marktheidenfeld; Armin Hospes, „In Treue fest“. Der Marktheidenfelder Bildhauer Eduard Eschenbacher, Oberjäger im bayerischen 2. Jäger-Bataillon Aschaffenburg während des Weltkriegs 1914-1918, Marktheidenfeld 2014 (Veröffentlichung des HV Marktheidenfeld und Umgebung e.V. 22).
Zum Autor: Dr. Leonhard Scherg war von 1984 bis 2008 Bürgermeister von Marktheidenfeld, er ist Kreisarchivpfleger für den Altkreis Marktheidenfeld und Rothenfels.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter https://www.mainpost.de/dossier/geschichte-der-region-main-spessart/