Marcus Kirchner aus Gemünden lernte die Bambusflöte vor 30 Jahren in Japan kennen. "Ein Mönch spielte in Tokio ein Konzert. Die Musik hat mich tief berührt", erinnert sich Kirchner, der auch Übersetzer für Japanisch, Englisch und Deutsch ist. Bis heute ist dieser Mönch sein Lehrmeister.
Das Besondere beim Spielen der Shakuhachi ist, dass man nicht wegen der Außenwirkung musiziere, so der 54-Jährige, sondern für sich selbst und das eigene Innere. Denn die Bambusflöte ist ein Instrument des Zen, also der Meditation. Ihre Wurzeln liegen in der sogenannten Komuso-Tradition, in der buddhistische Mönche sie seit Hunderten von Jahren einsetzen.
Ein Weg zur Stille im hektischen Alltag
Die eigene Mitte und Ruhe soll man über die Komplexität der Spielweise finden. Shakuhachis besitzen kein Mundstück, wie man es zum Beispiel von einer Blockflöte kennt, sondern eine Blaskante. Mit dieser wird der Luftstrom ins Innere geleitet, wobei der Neigungswinkel das Ton-Register bestimmt. Nur das richtige Zusammenspiel aus Neigung, Stärke des Luftstroms und Lippenspannung führt zum Erfolg. Belohnt wird man durch einen unvergleichbaren Naturton. "Dieser erzeugt", so Kirchner, "einen Klangraum, der sich direkt auf das vegetative Nervensystem auswirkt." Darunter fallen zum Beispiel die Atmung, aber auch der Herzschlag oder der Stoffwechsel.
Dies mache das Instrument für uns Menschen im Westen so interessant, meint der Shakuhachi-Experte. Denn sie sei ein Weg, um Stille zu finden im oft hektischen Alltag. Durchgesetzt hat sich der Begriff des "Suizen", dem Meditieren durch das Flötenspiel, als Ergänzung zum "Zazen", dem Meditieren im Sitzen und Gehen.
Shakuhachi als Anziehungspunkt für Menschen in Lebenskrisen
Kirchner beobachtet, dass sich vor allem Menschen, die in ihrem Leben an einem Scheideweg oder in einer Sackgasse angekommen sind, zur Shakuhachi hingezogen fühlen. So zum Beispiel sein Schüler Timo, von Beruf Lehrer. Er hatte nach dem Online-Unterricht in der Corona-Zeit, so beschreibt er selbst, ein Bedürfnis nach Isolation. "Ich wollte dann nur noch meine Ruhe." So kam er zur Shakuhachi. Nun reist er regelmäßig von Hannover nach Gemünden, um dort Unterricht zu nehmen. Auch aus anderen Teilen Deutschlands reisen Kirchners Schülerinnen und Schüler an.
Bei dem Gemündener können sie nicht nur Shakuhachi lernen, sondern sich auch ein Exemplar davon bauen lassen. Denn Kirchner ist – neben nur einer Handvoll anderen Baumeister in Deutschland – in der Lage, diese Flöten nach japanischer Tradition zu bauen. Mehrere Hundert Euro kostet ein solches Instrument, das sehr aufwendig in der Herstellung ist.
Den Bambus erntet Kirchner selbst in den Bergen Japans
Denn das Baumaterial kauft Kirchner nicht einfach irgendwo ein, sondern reist selbst nach Japan. "Ich ernte den Bambus dort, wo er wächst: in den Bergen." Durch die kühle Lage wachse er langsam und werde so hart und stabil. Die Ernte werde immer durch Ortskundige begleitet und nicht jeder Bambus sei geeignet. Man benötige, so erklärt der Experte, ein gewisses Gespür.
Nachdem die Rohre ausgegraben sind, röstet er sie über einem Feuer. Dann reisen sie mit ihm nach Gemünden. Dort müssen sie für etwa zwei Jahre lagern, bis Kirchner aus ihnen von Hand einzigartige Instrumente baut. Die Nodien (Blattknoten am Spross) werden dafür durchbohrt, dann kommen die fünf Fingerlöcher, am Ende wird die Blaskante angebracht.
Japanische Tonskala erzeugt einen ungewohnten Klang
Kirchner spielt die Flöte meisterhaft, bei sich im Garten – mit Koi-Teich und Bambus im Hintergrund – und regelmäßig im Meditationszentrum Zendo in Karlstadt. Dort können Interessierte kostenlos zuhören und meditieren.
Die Melodien, die sie hören, haben wenig mit dem zu tun, was unsere Ohren kennen. Denn sie wird in einer japanischen Tonskala gespielt. Hat man dem Instrument erst einmal einen Ton entlockt, kann man nach Noten spielen. Deren Notation erfolgt jedoch in Schriftzeichen, die es ebenfalls zu lernen gilt. Gespielt werden dann traditionelle japanische Volkslieder. Man könne sie aber auch – sofern man sie nicht zur Meditation spielt – im Jazz oder Pop einsetzen.
Prinzipiell kann jeder das Instrument erlernen, sagt Kirchner. Für Kinder sei es allerdings wegen der Komplexität der Spielweise weniger geeignet. Für ihn selbst sei die Shakuhachi ein Lehrmeister geworden, der ihn seit 30 Jahren begleitet. "Sie ist ein Spiegel, ein Instrument, das mir meine innere Verfassung wiedergibt." Frustration, meint er, sei beim Erlernen sicherlich immer mal wieder vorhanden. "Das ist ja eben das Lehrreiche." Man könne nichts aus der Shakuhachi erzwingen, stoße dann nur auf die Verweigerung des Instrumentes. Wenn man sich ihr aber voll und ganz widme, werde man beschenkt mit einer wunderbar heilsamen Klang-Erfahrung.