Die Idee kommt meistens von der Wand, die er vor sich sieht. „Das sind kleine Unregelmäßigkeiten im Stein oder auch die Art, wie etwas geformt ist“, sagt Jamie Paul Scanlon. Etwa die in Beton eingefasste Stahl-Schiene, in die Scanlon ein kleines Männchen einklemmt. Schaut er einen Laternenpfahl an, sieht er eine Ketchupflasche. Und wenn er auf dem Gelände der Kläranlage in Steinfeld bei Lohr steht, muss er die Hände tief in den Taschen vergraben, um den runden Betonblock nicht „versehentlich“ in ein riesiges Nutellaglas zu verwandeln.
Um die wahre Leidenschaft des Graffiti-Künstlers zu erkennen, braucht es den Blick für's Detail: Seine Werke sind manchmal nicht größer als ein Handteller, oft scheinen sie mit den kleinen Unregelmäßigkeiten der Wand zu verschmelzen. Ein Wasserfleck an einer Betonmauer wird zum Ausstoß eines startenden Spaceshuttles. Unkraut zwischen den Pflastersteinen vor der Wand wird zum Hindernis für einen winzigen Springreiter.
Motive entstehen aus mehreren Schichten
Jamie Paul Scanlon stammt aus Weston-super-Mare im Südwesten Englands. Vor knapp zehn Jahren hat er mit dem Sprayen angefangen, die Arbeiten des Street-Art-Künstlers Banksy inspirierten ihn. Scanlon arbeitet mit Schablonen, die er von Hand herstellt. „Ich bin nicht gut im Malen oder mit Photoshop.“ Deswegen sucht er nach passenden Foto-Vorlagen, die er direkt zu Schablonen verarbeiten kann. Learning by doing. Ein, zwei Stunden, dann ist die Vorlage fertig. „Bei größeren Werken, etwa mannshohen Aliens oder Robotern, brauche ich aber schon mehrere Tage, um die Schablonen anzufertigen“, sagt Scanlon. Auch das Sprayen dauert da länger, es können schon gut und gerne fünf bis sechs Stunden werden. Die Motive entstehen Schicht für Schicht, indem Scanlon mehrere Schablonen übereinander legt.
„Es ist schon verrückt, die kleinen Motive, die ich in 15 Minuten gesprüht habe, rufen oft viel mehr Reaktionen hervor, als die großen Sachen“, wundert sich der Graffiti-Künstler. 50 000 Menschen folgen ihm auf seinem Instagram-Account. Für Bilder wie das eines Spiderman, der seinen Spinnenfaden in Richtung der Kamera schießt, bekommt er 4000 Likes. Manchmal sprüht Scanlon noch einen Spruch zum Motiv, um den Betrachter zusätzlich zu erheitern. „Bet this ends up on the web“, steht etwa neben einem Spiderman, ein Spiel mit der Doppelbedeutung des Wortes „web“. Landet das Graffiti im Internet oder in Spidermans Spinnennetz? Beides vermutlich.
Über die Kunst zur Liebe gefunden
Über seine Kunst hat der 41-jährige Brite auch seine Verlobte Stefanie Höfling aus Sackenbach kennengelernt – und seinen heutigen Wohnort Steinfeld gefunden. „Steffi ist großer Fan von Stephen King und hat im Internet mein Graffito der King-Figur Pennywise gesehen“, erzählt Scanlon.
Die Unterfränkin nimmt Kontakt auf, lange Zeit schreiben sie sich online Nachrichten. Als sie sich zum ersten Mal treffen, ist es „einfach einer dieser Momente, in denen man sich direkt sicher ist, dass alles passt“, erinnert sich Scanlon. Auch Höfling sprüht und malt, das Paar unterstützt sich gegenseitig – auch finanziell. Im September werden sie heiraten.
Der Umzug nach Deutschland, in den Landkreis Main-Spessart, sei „nicht ganz leicht“ gewesen, sagt Scanlon im Rückblick. „In Weston ist meine Kunst bekannt, dort freuen sich die Leute auch dann, wenn ich ohne zu fragen etwas an eine Wand sprühe.“ In Lohr hat er sich im vergangenen Jahr auch schon legal verewigen können, mit Schneewittchen und den sieben Zwergen am Treppenabgang zum Kaibach. „Ein schönes Motiv und ich hab mich über den Auftrag gefreut“, sagt Scanlon. „Aber das war nicht wirklich ich.“ Sein Versuch, seine Art von Kunst in Lohr zu zeigen, hat in der Stadt für Aufruhr gesorgt: Die Silhouette eines Jungen, der auf ein vogelförmiges Loch in der Wand schießt, erinnerte viele an einen Kindersoldaten.
Von der Schneewittchen-Stadt zur Street-Art-Stadt?
Scanlon träumt davon, seine Mini-Motive in der ganzen Stadt zu verteilen. Im Steinfelder Wald gibt es für Spaziergänger schon ein paar Werke zu entdecken, alle markiert mit den Initialen JPS. In seiner Heimatstadt Weston sind so viele Leute auf Scanlons Werke aufmerksam geworden, dass das Stadtmarketing mittlerweile Karten herausgibt, auf denen die Kunstwerke verzeichnet sind. „Ich könnte mir vorstellen, dass das in Lohr auch Anklang finden würde“, sagt Scanlon. „Die Stadt will sich als Schneewittchen-Stadt einen Namen machen, aber warum nicht auch als Street-Art-Stadt?“ Ständig würden Fans seiner Instagram-Seite nachfragen, wo sie seine Werke in der Realität bewundern könnten, erzählt der Sprühkünstler. „Ich muss sie dann auf Graffiti verweisen, die ich Weston gemacht habe oder auch in New York und Norwegen. Gerne würde ich auch auf Lohr hinweisen.“
Ohne Erlaubnis in Lohr zu sprühen, das macht der 41-Jährige seit dem Trubel um seinen Vogel-Schützen nicht mehr – auch wenn schon feststand, dass das Gebäude abgerissen werden würde. „Meine Verlobte verbietet es mir.“ Dabei habe sie ihm damals sogar geholfen, sagt Scanlon lachend: „Wir sind nachts mit dem Auto vorgefahren, Steffi hat die Schablone an die Wand geklebt und im selben Moment habe ich angefangen, die Silhouette des Jungen zu sprühen.“ In drei Minuten sei die Kunst geschaffen, die Sache erledigt und das Paar wieder im Auto auf dem Heimweg gewesen.
An den Einrichtungen des Klärwerks in Steinfeld darf sich der Brite ganz offiziell austoben. Einem seiner Nachbarn war das Graffito eines kleinen Mädchens aufgefallen, das Scanlon an die Wand seines eigenen Hauses gesprüht hatte. „Mein Nachbar kannte den Leiter des Klärwerks und hat uns zusammengebracht.“ Man habe ihm sogar angeboten, ihm die Farben zu bezahlen, doch er lehnte ab: „Ich wollte sicher gehen, dass ich sprühen darf, was ich möchte.“
Motive nicht auf ersten Blick zu entdecken
Man muss genau hinschauen, um seine Spuren zu finden: Eine Frau in Klettermontur kraxelt eine Betonwand hoch, ein roter Rennwagen fliegt über einem Sandhaufen. Dies Motive sind nur wenige Zentimeter groß. Auch ein Werk von Stefanie Höfling findet man dort: ein Mädchen, sitzend, vor ihr ein Vogelschwarm. „Das sind 77 Vögel,“ erklärt Scanlon. Sie stehen für die 77 Menschen, die beim Attentat auf der norwegischen Insel Utoya 2011 ums Leben kamen.
Scanlon selbst versucht politische Botschaften eigentlich zu vermeiden. „Ich möchte die Leute lieber unterhalten.“ Trotzdem, auch manche seiner Werke haben einen ernsten Hintergrund. Etwa der Wasserhahn, aus dem eine Galgenschlinge tropft: „Suizid ist ein Thema, mit dem ich privat schon öfter in Berührung gekommen bin“, sagt Scanlon knapp. Er blickt auf eine bewegte Vergangenheit zurück, geprägt von Drogen und Kriminalität. Und er war obdachlos, als er das Sprühen für sich entdeckte. „Die Kunst hat mich gerettet“, sagt er ernst – über die Idee, dass jemand mit einem Eimer vor dem Hahn stehen könnte um Wasser zu holen, muss er dennoch lachen.
„Für diese Wand plane ich wieder etwas großes“, sagt Scanlon grinsend und zeigt auf eine runde Betoninstallation in der Mitte des Klärwerkgeländes, rund drei mal sechs Meter groß. Was es werden soll, verrät er noch nicht. Aber er ist sicher: „Wenn das Projekt fertig ist, wird das Klärwerk sicher eine Menge Besucher haben.“