Die Bahnhofsuhr zeigt 14.40 Uhr an diesem verregneten Wintermontag. Christian Schürger sitzt hinter raumhohen Glasscheiben am Tresen seines Kiosks. "DB Agentur Lohr, Geschäftsführer" weist ihn seine Visitenkarte aus. Klingt nach Führungskraft. Doch der 48-Jährige ist lediglich Herr über den knapp 40 Quadratmeter großen Verkaufsraum und das schmale Nebenzimmer dahinter, in dem sein Bett zum Ausruhen steht. Schürger ist allein, wartet gelassen auf den nächsten Kunden. Den roten Reiter auf seinem Kalender wird er nur noch 23-mal schieben. Denn am Ende 28. Februar schließt er ab mit seiner 15-jährigen Tätigkeit. Der letzte Mohikaner verlässt den Lohrer Bahnhof.
Online-Kauf hat zugenommen
"Da der Online-Kauf und das Bestellen von Tickets via Handy sowie der Kauf am Fahrtkartenautomaten extrem zugenommen hat, ist ein wirtschaftliches Betreiben nicht mehr gewährleistet", teilt er seinen Kunden per Aushang an der Eingangstüre mit – mit Dank an die treuen Kunden und freundlichen Grüßen. "Wenn nur jeder zweite Kunde seine Fahrkarte nicht am Automaten gezogen, sondern zum selben Preis bei mir gekauft hätte, dann hätte es sich gelohnt."
Doch dem war nicht so. Der gelernte Einzelhandelskaufmann, der einst in Würzburg und Kitzingen Möbel und Autos verkaufte, vier Jahre Zeitsoldat war und seine dreijährige Umschulung zum Wirtschaftsinformatiker aus eigener Tasche bezahlt hatte, zieht einen Schlussstrich. "Das ist halt der Lauf der Dinge", sagt er.
Ein Ticket in 30 Sekunden
Ein junger Mann kommt, grüßt, weiß was er will: "Einmal Aschaffenburg hin und zurück mit Bahncard." Schürger tippt routiniert auf den Touchscreen, nach 30 Sekunden hat der Kunde seine Fahrkarte in der Hand. 15 Euro hat der Agenturleiter kassiert. Ihm selbst bleiben davon acht Prozent Provision: fünf Prozent vom Verkehrsverbund Mainfranken und drei zusätzliche Prozentpunkte vom Landkreis Main-Spessart, in diesem Fall unterm Strich demnach 1,20 Euro.
Aufgemacht hatte er, dessen Vater und Großvater Eisenbahner waren, am 1. März 2004 – damals noch zusammen mit Christine Dehm als GbR, mit einer Vollzeitkraft und voller Hoffnung. Drei, vier Jahre lang war die Bahn-Agentur auch mit einer Post-Agentur gekoppelt. "Dann hat die Post die Provision so stark gekürzt, dass es nicht mehr rentabel war."
Belegte Weck gab es anfangs, Brezeln und Gebäck, Wein und Sekt, "um ein bisschen was auszuprobieren". Es hat sich nicht ausgezahlt. Die Kundenfrequenz reicht nicht aus. 2008 übernahm er auch die Agentur in Gemünden, zunächst mit Dehm, ab 2013 dann allein. 2017 zog sich Schürger dann dort zurück.
Seit Wochen kostenlos parken?
Aufgeregt stürmt ein älterer Herr am Zeitschriftenregal vorbei. Er habe sein Auto auf dem Parkplatz abgestellt, doch der Parkschein-Automat nehme kein Geld an, blinke rot und zeige nur "Bitte Parkscheibe einlegen" an. "Das Druckerlaufwerk ist kaputt – das weiß ich", erklärt Schürger in ruhigem Ton. "Was soll ich jetzt tun?", so der verunsicherte Kunde. "Na, ich häng Ihnen keinen Strafzettel dran", so Schürger trocken.
Bestimmt vier Wochen sei es schon her, dass er seinem Vermieter den Ausfall des Automaten gemeldet habe. Getan hat sich seitdem nichts. "Ich krieg hier halt alles ab", sagt er. "Täglich" – egal, was schief laufe: ob es keine Ansage gegeben habe oder sich die Laufschrift nicht aktualisiere. "In 15 Jahren härtet man ab", fährt er fort. "Ich hör's mir halt an – mehr kann ich nicht machen."
Fünf Dutzend Kunden pro Tag
Über 1100 Fahrgäste benutzen den Lohrer Bahnhof täglich, hat Schürger kürzlich gelesen. In seine Agentur kommen im Schnitt gerade mal 50 bis 70 davon, schätzt er und zieht einen Ordner hervor. "Freitag 54, Donnerstag 18, Mittwoch 34, Dienstag 30, Montag 56." Das waren die Fahrkartenverkäufe in der Woche zuvor. Manch einer kommt nur wegen einer Auskunft. "Wo bitte gibt's hier eine Toilette?" Es gibt keine mehr. Die Kneipe mit Pizza- und Pasta-Lieferservice im Nordostflügel des Hauptbahnhofs hat 2017 zugemacht. Schürger könnte nur mit Galgenhumor antworten: "Fahren Sie mit dem nächsten Zug."
Ein Mann, vielleicht Mitte 50, verlangt eine Sechser-Karte Neuhütten – Lohr. Schürger tippt dreimal auf seinen Bildschirm – schon spuckt der Drucker die Fahrkarte aus. Der Busfahrer in Neuhütten weigere sich, eine Fahrkarte nach Würzburg zu drucken, schimpft der Mann. "Dabei hat er genau das gleiche Gerät wie ich hier", schüttelt Schürger den Kopf. "Das ist typisch."
Zehn Ein-Zimmer-Appartements auf 1300 Quadramtern Nutzfläche?
Anfangs war Schürger ein Mieter der Deutschen Bahn. Seit 2016 zahlt der Geschäftsführer monatlich 588 Euro Miete an die Aedificia GmbH, die den Bahnhof gekauft hat. "Witzig", sagt er: "Gerade heute fangen sie im ersten Stock das Renovieren an." Die Frankfurter Firma, die reihenweise Bahnhöfe aufkaufte, habe ihm sogar einen Vorschlag zur Erweiterung unterbreitet, plaudert er aus dem Nähkästchen: Er könne zehn Ein-Zimmer-Appartements, die Aedificia auf den 1300 Quadratmetern Nutzfläche im ersten Stock einrichten werde, mieten und an Interessenten weitervermieten. Elf, zwölf Euro für den Quadratmeter hätte er selbst bezahlen sollen. Schürger hat's erst für sich über- und das Angebot dann ausgeschlagen. Funktioniert nicht.
Jetzt scheint Aedificia zu verwirklichen, was Geschäftsführer Stefan Steinert im November ankündigte: Die vorhandenen vier Wohnungen renoviert und vermietet. Eventuell werde auch die ehemalige Bahnhofsgaststätte im Erdgeschoss zur Wohnung umgebaut, falls sich kein Bäcker oder anderer Gewerbetreibender als Mieter findet. Den versprochenen Rückruf blieb die Firma der Redaktion schuldig.
Für Fernverkehr-Fahrkarten gibt's zwei Prozent Provision
"Düsseldorf einfach", verlangt ein junger Mann mit asiatischen Gesichtszügen. Schürger: "Macht 63,99. Der Zug fährt in fünf Minuten ab." Der Mann zahlt mit EC-Karte. In diesem Fall kein Problem. Bei Beträgen unter 20 Euro kassiert Schürger nur bar. "Darunter ist es nicht mehr rentabel, weil ich der Bank ja auch noch Provision zahlen muss." Düsseldorf ist Fernverkehr, da rechnet Schürger mit der Bahn ab. Zwei Prozent des Kaufpreises bleiben ihm. Dass er drei Prozent mehr bekam, weil sein Monatsumsatz über 15 000 Euro lag, ist ihm im vergangenen Jahr nur einmal gelungen, im Sommer, in der Hauptreisesaison.
Das Büro im Erdgeschoss stand schon leer, als er anfing, erzählt Schürger weiter. Das Wollstübchen neben ihm streckte die Stricknadeln schon nach einem Jahr, kapitulierte. Der kleine Lautsprecher, über den er verfolgen konnte, wie sich Fahrdienstleiter und Busfahrer wegen Verspätungen absprachen, wurde schon nach etwa drei Jahren abgebaut – überflüssig geworden mit dem Abzug des Fahrdienstleiters vor Ort.
Stammkundin ist sauer
Die Bahnhofsuhr zeigt 15.20 Uhr. Schürger klärt eine Stammkundin über die bevorstehende Schließung auf. "Das tut mir aber arg leid", zeigt Angelika Feuser Mitgefühl. Darauf der 48-Jährige, der täglich frühmorgens von Waldbüttelbrunn her kommt, um den Schalter zu öffnen: "Ich hätt' mich gern noch 20 Jahre hierhergesetzt." Seit 1986 fahre sie regelmäßig mit dem Zug in ihre oberbayerische Heimat, erzählt Feuser, die als Lohrer Waschweib Touristen durch die Stadt führt. Und immer sei sie gut bedient worden. "Das regt mich jetzt auf", empört sich der Sproß einer alten Bahnfamilie schließlich. "Wo krieg ich jetzt meine Bonuspunkte her? Vielleicht vom Automaten?"
Der steht draußen am Bahnsteig 1. Die Kippen dort zeugen davon, dass der Bahnhof nicht – wie erwünscht – eine "Non-Smoking-Station" ist. Sie umlagern den metallenen Abfallbehälter, hinter dem eine leere Wodka- neben einer ebenso leeren Sektflasche steht.
Der Großmüllbehälter an der Ecke, der 1100 Liter fasst, wird anscheinend eher zufällig geleert. Im vergangenen Jahr habe er einmal über acht Wochen lang dagestanden, vollgestopft bis unter den Schiebedeckel, erzählt Schürger. Wer sich darum kümmert? Das weiß der Agentur-Betreiber nicht. Er kann auch nicht sagen, wie genau die Reinigung organisiert ist, zuckt er die Achseln.
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"Freiburg einfach mit Bahncard 50 und Bonus." Der blonde Mann mit dem gewellten Haar, vielleicht Mitte 40, hatte vielleicht ein Bewerbungsgespräch bei Rexroth, orakelt Schürger später. 40,50 Euro macht das insgesamt, 81 Cent für den Agenturbetreiber. Die nächste Kundin, Mitte 30 mit Rucksack, ersteht nur eine Flasche Wasser. Wenig später, eine Frau: "Lohr – Würzburg und zurück." Macht 17,50 Euro, diesmal wieder acht Prozent von Verkehrsverbund und Landkreis für Schürger.
Angebot ist ausgedünnt
Dann ist er wieder allein in seinem Verkaufsraum. Das Angebot in den Regalen ist längst ausgedünnt. Auch die großen Zugmodelle seines Vaters bietet er zum Kauf an. Den Rest dieses Montags und dieser Woche, dann dreimal noch die vertraglich vereinbarten 45 Stunden Öffnungszeit für eine ganze Woche, dann noch einmal vier Tage, und dann ist Schluss.
Für eine Stelle im Schalterdienst der Bahn hat er sich beworben. Er erhielt eine Absage – "wohl wegen fehlender Berufserfahrung", mutmaßt er mit einer gehörigen Prise Sarkasmus. "Aber ich hab schon einen Job in Stuttgart." Er wird Kundenbetreuer bei der Go-Ahead Baden-Württemberg GmbH, die ab Ende 2019 – als fünftes Netz – den schnellen Bahnverkehr auf der Frankenbahn zwischen Stuttgart, Heilbronn und Würzburg übernehmen wird.
Da verdiene er nicht viel, aber ein bisschen mehr als jetzt, sagt Schürger. Dafür brauche er als dann Angestellter keine private Krankenversicherung mehr, habe er eine 38,5-Stunden-Woche und Urlaub (für den er als Selbstständiger bislang 450-Euro-Kräfte einsetzen musste).
Ein Sprecher der Deutschen Bahn AG aus München, der nicht namentlich zitiert werden wollte, erklärte auf eine entsprechende Anfrage der Redaktion: "Die Deutsche Bahn wird sich schnellstmöglich um einem Nachfolger für die Agentur bemühen."