
Ingrid Sontag ist viel und gerne gewandert – in der näheren Umgebung und weit weg. Ihren schwersten Weg dürfte sie im Dezember gegangen sein, als klar war, dass durch ihre Krankheit die letzte Etappe auf ihrem Lebensweg bevorstand. Am 3. Januar ging die Reise der ehemaligen Lehrerin des Lohrer Gymnasiums an ihrem Wohnort Würzburg nach 74 Jahren zu Ende.
Sontag ist vielen Menschen in der Region bekannt: 1977 hatte sie ihre Tätigkeit am Franz-Ludwig-von-Erthal-Gymnasium als Lehramtsassesorin begonnen und 35 Jahre später im August 2012 als Studiendirektorin beendet. In Erinnerungen werden den Schülerinnen und Schülern die Reisen zum Wandern auf Korsika bleiben, die sie mit Norbert Nadler ins Leben gerufen hatte. Sie unterrichtete die Fächer Geografie, Wirtschaft/Recht und Sozialkunde. Sie wirkte – wie es im Jahresbericht 2012 zu ihrer Verabschiedung hieß – unter anderem bei der Einführung der Kollegstufe mit.
Ihr Ziel sei es gewesen, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, ihre Belange zu vertreten und ihr Leben zu gestalten. Sie habe Wert auf selbstständiges Lernen gelegt, auf politische Bildung und Zivilcourage, schrieb der damalige Schulleiter Christian Conradi. Er zitierte darin auch aus einem Gespräch mit Sontag, dass zu ihren schönsten Erlebnissen der Kontakt zu Ehemaligen zähle.
Politische Bildung und Zivilcourage spiegeln sich nicht nur in den von ihr unterrichteten Fächern wider. Ihr Sinn für Gerechtigkeit und ihr Einsatz für Benachteiligte zeigte sich in ihrem Einsatz als Personalrätin an der Schule, betonen ehemalige Kolleginnen und Kollegen. Auch in ihrer Freizeit folge sie ihrem Kompass: Sie engagierte sich bei Amnesty International, unterstützte, wie eine Freundin Sontags erzählt, einen afghanischen Geflüchteten, damit dieser in Deutschland Fuß fassen konnte.
Schicksale jüdischer Mitmenschen recherchiert
Ein großer Teil ihres Ruhestands galt der Aktion Stolpersteine in Würzburg. Sie recherchierte die Schicksale etlicher jüdischer Menschen, die aus der Stadt deportiert wurden oder infolge der Reichspogromnacht ihr Zuhause verloren hatten, deshalb wegziehen mussten und dann in die Konzentrationslager transportiert wurden. Es berührte sie, wenn sie Angehörige der von den Nationalsozialisten Ermordeten ausfindig machen konnte und es zum gemeinsamen Gedenken an die Opfer kam.
Ihr ausgleichendes Wesen würdigt der Boule-Club Würzburg, dessen aktives Mitglied Sontag war, auf seiner Homepage: "Der Mensch und das gemeinsame Erlebnis waren ihr immer wichtiger als der sportliche Erfolg." Beim Boule-Verein Pétanque Lohr war sie Gründungsmitglied und entwarf den Norbert-Nadler-Pokal, heißt es aus der Vorstandschaft.
Viele Ideen, was man aus einem Stein machen kann
Seit einigen Jahren betätigte sich Sontag auch als Steinmetzin. "Sie hatte viele Ideen, was man aus einem Stein machen kann", berichtet einer ihrer ehemaligen Kollegen. In dessen Garten hatte sie die Möglichkeit, den Werkstoff zu bearbeiten. Ihre Weggefährten berichten von vielen weiteren Interessen der gebürtigen Oberbayerin: Jazz, Film und Literatur. Sie wird als weltoffener, vielseitiger Mensch beschrieben. Diese Eigenschaften hätten sie zu einer bereichernden Begleiterin gemacht.
Die Zeit ihrer drei Jahre währenden Krankheit habe sie bewusst gestaltet, ihre Lebensgewohnheiten beibehalten und die guten Phasen für Reisen, Unternehmungen und Begegnungen unter anderem mit ihren beiden Schwestern genutzt und genossen, berichten Freunde und einige aus dem Kreis der ehemaligen Kolleginnen und Kollegen.
Auf ihren Wunsch werde Ingrid Sontag im Familiengrab in Landsberg am Lech beigesetzt, teilt eine Freundin mit, die sie bis zuletzt begleitete. In Würzburg werde es eine Abschiedsfeier geben. Der Zeitpunkt stehe jeweils noch nicht fest.