Olha Kuntsevska ist eine von über 45 Geflüchteten aus dem ukrainischen Kriegsgebiet, die derzeit in Thüngen untergebracht sind, alle fast ausschließlich bei Privatleuten. Für Kuntsevska ist die Werntalgemeinde dabei kein unbekannter Ort. Vor 20 Jahren war sie schon einmal als Au-pair in Thüngen. Jetzt wohnt sie mit ihrem Sohn Ardem und ihrer Nichte Katja im oberen Stockwerk des ehemaligen Sägewerks Kämpf. Für Kuntsevska ist es eine Rückkehr unter schlimmen Bedingungen.
Im Jahr 2001 hatte sich die damals 20-Jährige für ein Jahr als Au-pair-Mädchen von der Familie Voll anwerben lassen, betreute während dieser Zeit deren beiden Kinder und lernte außerdem Deutschland und die Sprache kennen. Sie erinnert sich gerne an dieses Jahr, beispielsweise an den Wechsel von der Mark zum Euro. Aber sie denkt auch an die erste Angst in ihrem Leben, ausgelöst durch die Anschläge auf das World-Trade-Center am 9. September. Dass Olha gerne wieder einmal nach Thüngen zurückkehren wollte, war klar – nicht aber unter diesen Voraussetzungen.
Scheinbar sachlich, aber doch hochemotional erzählte sie dieser Zeitung und Irina Strifsky von den Ereignissen im Februar und März diesen Jahres. Strifsky ist die Frau des Thüngener Bürgermeisters und setzt sich intensiv für die Betreuung der Flüchtlinge im Ort ein.
"Ich habe nie geglaubt, dass ich aus so schlechtem Grund nach Thüngen zurückkehren würde", sagt die Frau. Zwei Tage vor dem Kriegsbeginn hatte sie mit Carolin Voll telefoniert, und man hat sich gegenseitig Mut gemacht. Der Tag des Überfalls begann für sie um 4.30 Uhr mit einem Bombenangriff auf die Militärschule in Browary, am östlichen Stadtrand der Hauptstadt Kiew. Erst später heulten die Luftschutzsirenen und die Menschen flüchteten in die Keller. "Es war Krieg und keiner wusste was er tun sollte", so Kuntsevska. Ihre Familie fand Unterschlupf im Keller des Kulturzentrums von Browary, wo Olha als Abteilungsleiterin angestellt ist.
Die erste Nacht verbrachte man schlaflos und angezogen im Untergrund, am nächsten Tag beschloss die Familie in ihre "Datsche", ihr Sommerhaus, zu ziehen, wo man sich Ruhe und Sicherheit erhoffte. Bei ihrer ersten Flucht hatten sie jeweils eine Tasche und ihren Pass dabei, sonst nichts. Doch auch dieses Areal war mittlerweile zum Kampfgebiet geworden, die Kriegsparteien schossen wechselseitig fast vier Tage lang über die Datschen hinweg. Inzwischen waren die mitgebrachten Vorräte aufgebraucht, mit Mühe konnte man eine Packung Toastbrot und ein paar Handvoll Kartoffeln organisieren, erzählt sie. Durch den Beschuss und die Kälte fielen Strom und Wasser aus, einige Mutige wagten sich ins nächste Dorf, um unter anderem die Akkus der Handys aufzuladen und ein Minimum an Kommunikation zu erreichen.
Flucht über beschädigte russische Panzer
Dann ergab sich die Möglichkeit zu einer zweiten Flucht. Zwei beschädigte russische Panzer waren in einem Flusslauf steckengeblieben, so dass man durch diese "Brücke" auf die andere Seite gelangen konnte. Mit Autos und Bussen gelangten die Menschen unter dem Schutz des ukrainischen Militärs über den Dnjepr in die Stadt Obuchiv, wo Familienangehörige leben. Hier traf man schweren Herzens die Entscheidung, dass Olha gemeinsam mit ihrem achtjährigen Sohn und der 21-jährigen Nichte Katja das Angebot der Thüngener Familie annehmen und nach Deutschland flüchten werde.
"Der Abschied an der polnischen Grenze war schlimm", sagt Kuntsevska. Die Männer der Familie, darunter ihr Ehemann, dienten beim Militär oder als Lkw-Fahrer. Auch jetzt hatte jeder außer einem Rucksack nur das, was er auf dem Leib tragen konnte. Die Aufnahme in Polen empfanden die Flüchtlinge als sehr freundlich und hilfsbereit. Nach dem kurzen Aufenthalt im Massenquartier einer umfunktionierten Turnhalle brachte ein Bekannter die drei bis nach Dresden, von wo aus sie weiter bis ins Werntal reisen konnten.
Wie geht man als geflüchteter Mensch mit diesen Erlebnissen um? "Im normalen Leben weiß man nicht, was es heißt, ohne Wasser, Strom und Essen auskommen zu müssen. Wir wissen heute: Essen, trinken, schlafen – mehr braucht man nicht", so Kuntsevska. Nichte Katja kann ihre Erfahrungen so leidlich verarbeiten, der achtjährige Sohn aber war lange Zeit sehr verschlossen – nach und nach taut er aber wieder auf, besonders im Umgang mit den Kindern an der Thüngener Grundschule. Die Mutter hat versucht, die Gefahr und die gesehenen Gräuel bestmöglich von ihm fernzuhalten. Fast ungläubig hat er nach seiner Ankunft in Thüngen gefragt: "Mama, darf ich jetzt wieder ohne Socken und Kleider schlafen?"
Kuntsevska selbst ist nach wie vor zutiefst erschüttert. "Ich kann nicht ertragen, wieso Menschen auf diese Weise miteinander umgehen", sagt sie und fragt sich, was wohl die jungen russischen Soldaten ihren Frauen und Müttern erzählen, wenn sie zu Hause anrufen. Der Behauptung des Kremls, die Ukraine sei eigentlich ein natürlicher Teil Russlands, widerspricht sie vehement. Seit dem Ende der UdSSR und der Geburt des Staates Ukraine hätten beide Gesellschaften grundlegend verschiedene Entwicklungen durchgemacht: "Die Menschen bei uns haben viel mehr Freiheiten und sie denken ganz anders über das gesellschaftliche Zusammenleben!" Russland werde noch viele Jahrzehnte an der Last dieses Krieges zu zehren haben, glaubt sie sicher.
Über die Vorkommnisse in Butscha wisse sie aus erster Hand von Menschen, die vor Ort waren. Sie kenne auch Augenzeugenberichte von Plünderungen, Übergriffen und Morden an Zivilisten. Ganze Familien seien dabei ausgelöscht worden. Russische Soldaten stahlen sogar Unterwäsche, hat Olha erfahren.
Alleine sein ist im Moment das Schlimmste; auch in Thüngen schlafen die drei nur zusammen in einem Bett. Olha weigert sich aber innerlich standhaft, alle Russen pauschal zu verurteilen, denn "schlechte Leute können in jedem Land Unheil anrichten", sagt sie. Sie warnt: "Kein Land in Europa kann sich jetzt mehr sicher fühlen."