
Es gibt nur wenige Ereignisse, bei denen Zeitzeugen heute noch wissen, wo sie waren, als sie davon erfuhren. Der Fall der Mauer im Jahr 1989 gehört dazu. Die Ereignisse an diesem 9. November überstürzten sich und Tagesthemen-Moderator Hajo Friedrichs gelang die berühmt gewordene Anmoderation. "Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab", sagte er, "aber heute Abend darf man einen riskieren - dieser 9. November ist ein historischer Tag: Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind."
Die Menschen überall auf der Welt erlebten staunend, wie die DDR friedlich zerfiel und dieser Prozess in der Wiedervereinigung der bis dahin getrennten deutschen Staaten mündete. Für den Landkreis Main-Spessart führte dies zu einem Wachstum der Bevölkerung, denn viele ehemalige DDR-Bürger verließen auf der Suche nach Arbeitsplätzen ihre ehemalige Heimat. Manch einer hatte auch schon zuvor die Flucht aus der DDR gewagt oder einen Ausreiseantrag gestellt.
Alleine in den Jahren 1989 und 1990 verließen rund 800.000 Menschen den Osten und nicht wenige fanden im Landkreis Main-Spessart ein neues Zuhause. Im Jahr 1990 zählte der Landkreis Main-Spessart 126.754 Einwohner. In den darauffolgenden zehn Jahren stieg diese Zahl bis aus 132.012 Einwohner an, was allerdings sicherlich nicht allein auf die Zuwanderung aus dem Osten von Deutschland zurückzuführen ist.
Wie ist es den damals Zugezogenen ergangen? Fühlen sie sich heute noch als Ossis? Wie haben sie damals ihre Flucht oder Übersiedlung erlebt. Wir sprachen mit drei Familien, die sich im Landkreis Main-Spessart niedergelassen haben.
1. Karin und Joachim Winter
Karin und Joachim Winter aus Marktheidenfeld gehören zu denen, die die DDR schon Mitte der 80er Jahre verlassen wollten und daher einen Ausreiseantrag stellten, der dann schließlich 1988 genehmigt worden ist. Zu DDR-Zeiten lebten die heute über 80-Jährigen mit zwei Töchtern im sächsischen Pirna.

"Dabei war ich zunächst gar nicht gegen die DDR eingestellt", sagt Joachim Winter. Es sei ihm und seiner Familie gut gegangen und er habe sogar gegenüber seinem Bruder, der noch vor dem Bau der Mauer 1961 das Land verlassen hatte, das System verteidigt. Dieser arbeitete als Binnenschiffer. "Komm wieder zurück, hier lebt es sich besser", habe er gesagt. "Vermutlich hat bei mir die DDR-Propaganda verfangen", meint Winter selbstkritisch.
Zum Bruch mit der DDR sei es gekommen, weil von ihm verlangt worden war, den Kontakt mit seinem Bruder vollständig abzubrechen, sagt Winter. "Wir sollten uns nicht mehr schreiben." Da er dies nicht befolgte, geriet er immer mehr in Konflikt mit der Staatssicherheit. Zunächst verlor er seinen Job im Bergbau. Reisen ins sozialistische Ausland beispielsweise zum Balaton in Ungarn wurden nicht mehr genehmigt. Auch Karin Winter fiel in Ungnade. Sie hatte als Erzieherin in einer Kindertagesstätte gearbeitet.
Als dann die Familie sich 1985 entschloss, einen Ausreiseantrag zu stellen, folgte eine schwere Zeit mit Verhören, Bespitzelungen und Überwachungen, über deren Ausmaß sie sich erst nach einem Blick in die Stasiakten bewusst geworden sind und die an den preisgekrönten Film "Das Leben der anderen" erinnern. Das Drama beschreibt die Arbeitsweise des Staatssicherheits-Apparats. "Auch in unserer Wohnung ist die Stasi heimlich gewesen", sagt Karin Winter. Das konnten sie in ihren Stasi-Akten nachlesen. Sogar gute Freunde und Verwandte seien unter den Spitzeln.
Im Juni 1988 war ihr Ausreiseantrag genehmigt worden. Das bedeutete für sie, innerhalb kurzer Zeit sollten sie die DDR verlassen. Mit dem Zug ging es zunächst nach Würzburg, von dort weiter nach Marktheidenfeld, weil der Bruder von Joachim Winter dort wohnte und ihnen eine erste Unterkunft gewährte. "Wir waren nahezu mittelos", erinnern sie sich. In ihre erste Mietwohnung seien sie quasi ohne Möbel eingezogen.
Den Fall der Mauer erlebten sie in Marktheidenfeld ein Jahr später. Das sei sehr emotional gewesen. Zur Freude über den Sturz des DDR-Regimes mischte sich die Sorge, manche ihrer Landsleute könnten falsche Erwartungen vom "Goldenen Westen" haben. "Um hier Fuß zu fassen, muss man sich eine Existenz aufbauen wollen", sagt Karin Winter.
Das ist ihnen gelungen. Joachim Winter fand eine Arbeitsstelle bei Paidi, Karin Winter im Orthopädie- und Sanitätshaus Schön & Endres. Jetzt im Ruhestand leben sie in einer eigenen Wohnung in Marktheidenfeld. Dass sie aus dem Osten kommen, hatte lange Zeit ihr sächsischer Akzent verraten. Dieser ist aber mittlerweile abgeschliffen. "Wir haben unseren Entschluss, die DDR zu verlassen, nie bereut."
2. Ilona und Volker Oswald
Ähnlich erging es Ilona und Volker Oswald, die ebenfalls in Marktheidenfeld beheimatet sind. Auch ihnen wurde im Laufe der 80er Jahre klar, dass sie in ihrer Heimat in der DDR keine Zukunft mehr haben, vor allem der Kinder wegen. Die Familie wohnte damals 25 Kilometer östlich von Dresden in Bretnig. "Es gab keine Meinungsfreiheit", beschreibt Volker Oswald den Auslöser für ihn und seine Frau, diesen Schritt zu machen. "Jeder hatte eine private Meinung, durfte diese aber nicht öffentlich kundtun. Die Kinder mussten in der Schule das sagen, was in den Büchern stand und nicht, was am Küchentisch diskutiert wurde." Mitte der 80er Jahre stellte die Familie einen Ausreiseantrag - der ignoriert wurde.

Die Beschränkungen hingegen nahmen zu. So durften kritische DDR-Bürger auch nicht mehr nach Ungarn reisen. Die Begründung: Nationale Sicherheitsinteressen. Das Regime fürchtete den Austausch mit anderen westlichen Bürgerinnen und Bürgern, wollte jeglichen Blick über den Tellerrand verhindern, erzählt Oswald. Auch beruflich wurde der Kurs der Einengung immer schlimmer. "Eigentlich hatte ich eine Stelle in einer Bank in Aussicht, die ich aber nicht annehmen wollte, da dafür der Eintritt in die SED verlangt wurde", erzählt Oswald. Also stieg er im Großhandel seines Vaters ein, den er 1986 übernahm. "Es gab aber keine wirkliche Einkaufskompetenz und das vom Staat festgelegte Budget wurde immer geringer, der Mangel immer offensichtlicher", so Oswald.

Als sich die Lage im Land 1989 zuspitzte, reiste der Familienvater im September alleine in die Prager Botschaft, um sich hier die Bestätigung des DDR-Anwalts Wolfgang Vogel zu holen, dass er mit seiner Familie in den nächsten sechs Monaten die DDR verlassen darf. Hier erlebte er auch die bewegenden Worte des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genschers mit, der den rund 4000 Flüchtlingen in der Botschaft ihre bevorstehende Ausreise ankündigte.
Drei Tage blieb er in der Botschaft - bis er den postkartengroßen Zettel endlich in den Händen hielt und damit die offizielle Erlaubnis, ausreisen zu dürfen. Zurück bei seiner Familie musste sich diese dennoch erniedrigenden Prozeduren des DDR-Regimes unterziehen: "Wir mussten uns vogelfrei machen, alles Hab und Gut verkaufen, selbst die Staatsbürgerschaft wurde aberkannt. Dafür gab es eine Identitätsbescheinigung", erzählt das Ehepaar. Auch emotional wurde es den Ausreisenden so schwierig wie möglich gemacht. So wurde von den nächsten Angehörigen, also von Eltern und Großeltern verlangt, dass sie offiziell und schriftlich darauf verzichteten, jemals einen Pflegeanspruch an die ausreisenden Kinder zu stellen.
Im Februar 1990 dann verließ die Familie ihre Heimatgemeinde - ihr Ziel: Steinfeld im Landkreis Main-Spessart. Hier lebte eine Brieffreundin von Ilona Oswald. Sie bot der Familie an, vorübergehend eine Wohnung zu besorgen und sie bei ersten Behördengängen zu unterstützen. "Das war Gold wert", erzählen Ilona und Volker Oswald. Auf Dauer aber konnte sich das Ehepaar das Leben auf dem Dorf nicht vorstellen - mit einem Auto und den zwei Kindern, damals vier und sieben Jahre alt. Zwei Jahre später zogen sie nach Marktheidenfeld, wo sie ihre zweite Heimat fanden.

Zweifel, den Schritt raus aus der DDR gemacht zu haben, kamen nie. "Wir hätten problemlos wieder zurück gehen können. Aber wir hatten kein Bedürfnis", so Volker Oswald. Mit Grund war das tiefe Misstrauen unter den Menschen und die Abneigung gegen die Mentalität des Denunzianten- und Duckmäusertums. Wer war bei der Stasi? Wer hat wen belauscht? Auch Oswalds haben sich nach Auflösung der DDR ihre Akten angesehen, die das Ministerium für Staatssicherheit über sie angelegt hatte. Darin erkannten sie, dass auch Nachbarn, mit denen man gemeinsam beim Grillen gesessen hatte, sie ausspioniert hatten. "Selbst Briefe an meine Freundin im Westen sind abgefangen worden, kopiert und mit Bemerkungen versehen in die Akte gekommen", erzählt Ilona Oswald.
Und heute? Wie sehen sie die Entwicklung? Gibt es noch Ost-West-Denken? Tatsächlich hätte das ihrem Empfinden nach in den letzten Jahren wieder zugenommen, erzählen sie. "Dass nach 30 Jahren immer noch unterschiedliche Bedingungen, vor allem auch unterschiedliche Einkommensverhältnisse herrschen je nach Region in Deutschland, das hätte man besser hinkriegen können", findet Volker Oswald. Unzufrieden sei vor allem die Generation, die kurz vor oder nach der Wende ins Berufsleben gestartet ist, also jetzt zwischen 40 und 50 Jahre alt ist. Junge Menschen, die ab 2000 geboren sind, hätten damit weit weniger Probleme.
3. Kerstin und Thomas Ott
1989 war Thomas Ott 25 Jahre alt, er lebte im Erzgebirge bei Aue und für ihn stand fest: "Ich wollte frei sein." Die Länder, in die DDR-Bürger reisen durften, waren sehr begrenzt und es wurden immer weniger, weil sich einige sozialistische Nachbarstaaten als unzuverlässig im Sinne des DDR-Regimes erwiesen. Thomas Ott war es aber im August 1989 erlaubt, nach Bulgaren zu reisen. "Ich bin mit der festen Absicht dorthin gefahren, nicht mehr wiederzukommen", erinnert er sich. "Nur mein Bruder wusste Bescheid."

Sein Plan war, sich von Budapest aus zur ungarisch-österreichischen Grenze durchzuschlagen und dort über einen See nach Österreich zu schwimmen. Dann wollte er weiter nach Deutschland. So war der Plan, aber es kam anders und für ihn deutlich bequemer: Denn in Ungarn hatte das globale Tauwetter bereits eingesetzt, das zum Fall des Eisigen Vorhangs führte, der die damaligen Militärblöcke Nato und Warschauer Pakt voneinander trennte. Das ungarische Regime erwies sich als freundlich gegenüber Flüchtlingen aus der DDR. In Budapest fand er einen Zug mit der Aufschrift "Für Flüchtlinge zur Weiterfahrt nach Wien". Nur seinen DDR-Pass musste er vorzeigen.
In Deutschland angekommen, wurde er Gemünden zugewiesen. Die erste Nächte verbrachte er im Schullandheim in Schaippach. "Ich war schnell integriert", erinnert er sich. Eine Arbeit fand er im Versand bei Rexroth und der TSV Langenprozelten freute sich über einen neuen Mittelfeldspieler für die Seniorenmannschaft. "Von meinen ersten 200 Mark, die ich vom Sozialamt bekommen habe, habe ich mir ein Paar Fußballschuhe gekauft", schmunzelt Thomas Ott.
Den Fall der Mauer erlebte er ein paar Wochen später im Fernsehen. "Endlich ist es vorbei", habe er gedacht. Sein Bruder habe ihn zwei Tage später in Langenprozelten mit dem Trabi besucht. Zu der Zeit hatte er dort schon eine Wohnung gefunden. "Für mich bedeutete der Fall der Mauer, dass ich meine Mutter wiedersehen kann", sagt Thomas Ott.
Seine Frau Kerstin Ott kommt auch aus dem Osten. Diese hat er einige Jahre später bei einem seiner Besuche in der früheren Heimat auf einer Sylvester-Party kennengelernt und sie ist ihm nach Langenprozelten gefolgt. Heute arbeitet sie als Förderschullehrerin in Hessen. Beide fühlen sich gut integriert in ihrer neuen Heimat und sind in vielen Vereinen. Wenn sie manchmal noch als Ossis bezeichnet werden, dann sei das nicht böse gemeint. "Der Osten ist unsere Heimat, genauso wie es Main-Spessart für uns geworden ist", sagen sie.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter www.mainpost.de/geschichte_mspL.