Der Rengersbrunner Schafhalter Richard Weis hat sich am Pfingstsonntag gewundert, wo denn die ganzen Lämmer sind. Acht halbjährige Jungtiere hatte er. Die 15 Mutterschafe seien ganz ruhig gewesen und hergekommen, als er morgens auf der Weide nach dem Rechten schauen wollte, erzählt der 55-Jährige. Aber wo waren die Lämmer? Das Gras auf der dreieinhalb Hektar großen Wiese über dem kleinen Spessartort steht noch immer hoch, er konnte also nicht sofort etwas sehen. Als er jedoch Krähen und Milane an einer Stelle der Wiese sah, ging er darauf zu – und fand dort ein gerissenes Lamm. Beim Gang über die Wiese fand er ein weiteres halbwegs komplettes Lamm, ansonsten viele Wollfetzen und Knochen. Mehr war von den übrigen sechs Lämmern nicht mehr da. Was war passiert? War es womöglich ein Wolf? Aber warum waren die Tiere so ruhig und warum waren nur Lämmer gerissen?
Weis rief am Dienstag nach Pfingsten beim Bayerischen Landesamt für Umwelt (LfU) an. Die seien kompetent und hilfsbereit gewesen, und eine Stunde später sei schon ein Wolfssachverständiger dagewesen. Der habe das Vorgefundene auch ungewöhnlich gefunden. Einen Luchs als Täter schloss er aus, weil ein zerbissener Kiefer gefunden wurde, was ein Luchs nicht mache. Der Experte habe zunächst auf einen Goldschakal getippt und zehn, fünfzehn Proben von Knochen und Wolle genommen, von denen drei eingeschickt worden seien. Das Ergebnis einer der Proben, das Weis vergangenen Freitag erhielt, war eindeutig: Es war ein Wolf. Laut LfU war es ein Tier der Zentraleuropäischen Population. Die Ergebnisse, welches Tier genau, stehen noch aus. Der Vorfall war der erste Riss eines Nutztiers im bayerischen Spessart und in Main-Spessart. 2019 riss ein Wolf schon einmal ein Stück Rotwild im Norden des Landkreises, damals war es interessanterweise ein Wolf der Alpinen Population.
Dass der Wolf bald auch im bayerischen Spessart Tiere reißt , war zu erwarten, nachdem Anfang April schon eine Wölfin im nahen hessischen Gutsbezirk Spessart ein Hirschkalb und im Februar ein männliches Tier mehrere Schafe in Schlüchtern gerissen hatte. Schafhalter Weis sagt, er sei dem Wolf nicht böse. "Der Wolf macht nur das, was seiner Natur entspricht", sagt er. Wenn man aber Wölfe haben und die Flächen freihalten wolle, dann müsse auch der Staat etwas tun, findet er.
Das LfU teilt mit, dass bei aktuellen Wolfsereignissen außerhalb der bekannten Gebiete mit standorttreuen Wölfen sogenannte "Ereignisgebiete" mit einem Radius von zehn Kilometern ausgewiesen werden. Ein solches Wolfsereignis können ein Nutztierriss wie in Rengersbrunn oder mehrere Nachweise über einen Zeitraum von drei Monaten sein. Dann würden Herdenschutzzäune und Herdenschutzhunde finanziell gefördert.
Nach dem Vorfall stellte Weis zusammen mit einem Jäger Wildkameras auf. Eine an der Stelle, wo der Wolf mutmaßlich vom Wald durch den Zaun in die Wiese gekommen ist, ein andere bei einem liegengelassenen Kadaver. Aber kein Wolf sei mehr aufgetaucht. Die Wiese oberhalb des Ortes, wo die Schafe momentan weiden, ist teilweise von einem festen Zaun, teilweise von einem mobilen Elektroweidezaun umgeben. Der feste Zaun werde von Wildschweinen ständig umgerissen, was Weis bisher keine Sorge gemacht habe, weil die Schafe ihre Weide nicht verließen.
Und wie geht es jetzt weiter? "Jetzt überlegt man halt", sagt der 55-Jährige, der bei Rexroth in der Gießerei arbeitet. Seit 40 Jahren habe er Schafe, eine Kreuzung aus Schwarzkopf- und Rhönschafen. Hauptsächlich zum Freihalten von zehn Hektar Wiesenflächen, verdient sei mit dem Hobby Schafe nichts. Aber er habe auch eine starke emotionale Bindung an die Tiere, manche habe er mit der Flasche großgezogen, er setze sich gerne einfach auf die Weide und schaue ihnen zu. "Wenn es mit den Schafen nicht mehr geht, dann muss man sich was überlegen." Wenn alles zuwachse, sei es halt nicht mehr schön, findet er. "Du kommst halt jetzt jeden Tag mit einem komischen Gefühl hierher." Ein Wolfszaun für mehrere Wiesen und insgesamt zehn Hektar wäre "schon ein langer Zaun" und auf die Wiesen käme er dann nur durch das jeweilige Eingangstor, überlegt er.
Im Frühjahr habe schon der Fuchs ein gerade geborenes Lamm geholt, erzählt Weis. Vier der gerissenen Lämmer hätte er gern für die Zucht verwendet. Leben und Tod liegen bei seinen Schafen nah beieinander. An Pfingstsonntag sind zwei weitere Lämmer auf die Welt gekommen.