
"Die ganze Stadt war die schmutzigste, die wir auf unserer Reise gesehen haben." Mit diesen wenig schmeichelhaften Worten bedachte ein englischer Reisender im 19. Jahrhundert Gemünden. Vor 170 Jahren, im Sommer 1852, reiste der damals 35-jährige Engländer Charles Tylor (1816–1902) mit volkskundlichem Interesse durch Franken, einem Gebiet "im Herzen Deutschlands", das bis dato von Reisenden und Geographen etwas vernachlässigt worden sei.
Darüber veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel "A historical tour in Franconia" (eine historische Reise in Franken). Zuvor hatte er eine Reihe von Vorlesungen über deutsche Geschichte gehalten, nun wollte er sich das Ganze mal mit eigenen Augen ansehen.

Seine Reise führte ihn, von Belgien und den Rhein herab kommend, quer durch ganz Franken. Von der Not im Spessart, die im Februar desselben Jahres der berühmte Arzt Rudolf Virchow mit eigenen Augen hatte sehen können, bekam auch Tylor Ende Juni 1852 einiges mit. Ihn verwunderte, wie hart viele Frauen arbeiten mussten, dass sie etwa Holz sägten oder Boote zogen. Bei vielen sah er einen Kropf.
Auf dem Weg von Aschaffenburg nach Würzburg übernachtete er am 26. Juni in Esselbach. Dort logierte er in einem gemütlichen Gasthaus, dem besten von dreien am Ort – der einzige Nachteil, schrieb er, war der muffige Geruch, der vom Stall darunter aufstieg. Im Gästebuch der dortigen Wirtschaft fand er in den vergangenen fünf Jahren nicht ein halbes Dutzend englische Namen, notierte er.
Den Sonntagsstaat der Esselbacher Bauern, in dem sie "schwerfällig herumstolzierten", fand er interessant: einen großen, dreispitzigen Hut aus schwarzem Filz, einen langen weiten, meist dunkelblauen Gehrock und hohe Stiefel. Die Frauen trugen Hauben aus gestärkter Seide mit hinten herabhängenden Bändern und dunkle Kleider. Bis zum Nachmittag blieb er im Ort, wo ihn – sonntags, wie er anmerkte – noch eine Frau in Arbeitskleidern und einem Arm voll Kamillenblüten in ihrer ärmlichen Hütte mit "deutscher Höflichkeit" empfing.
"Verunstaltet durch Kruzifixe und Bilder"
Der weitere Weg führte ihn, wie er schrieb, über die vor wenigen Jahren erbaute sandsteinerne Brücke in "Lengfurt". Hier ist davon auszugehen, dass sich der Autor vertan hat, da es 1852 in Lengfurt keine Brücke gab, in Marktheidenfeld aber sehr wohl bereits. "Die Stadt oder das Dorf Lengfurt", also wohl Marktheidenfeld, fand er hübsch erbaut aus rotem Stein, aber "verunstaltet durch Kruzifixe und Bilder", "geschmacklose Zeichen des Katholizismus". Dazu muss man wissen, dass Tylor Quäker war. In Erlenbach sah er an drei aufeinanderfolgenden Häusern christliche Szenen und drei oder vier an einer Mauer außerhalb des Dorfes.
Tylor reiste mit erstaunlicher Geschwindigkeit – seine Reise durch Franken dauerte keinen Monat – weiter nach Würzburg, nach Nürnberg, in die Fränkische Schweiz, nach Bayreuth, nach Bamberg und schließlich nach Schweinfurt, "einem Ort mit keinerlei Leben". Auf der Rückreise kam er erneut ins heutige Main-Spessart. Von Schweinfurt aus nahm er sich am 13. Juli eine Lohnkutsche (er verwendet das deutsche Wort), von wo aus er ins "Dorf" Arnstein kam, wo die Kutsche getauscht wurde.
"Der deutsche Lohnkutscher passt gut auf seine Tiere auf", notiert er, nur so können sie 30 oder 40 Meilen am Tag, oft über holprige und hügelige Straßen, reisen. Durchs schwüle Werntal ging es nach Hundsbach und dann wieder zurück an die Wern, zwischen Getreidefeldern und Weinbergen dahin zum Main. Der habe wenig Wasser geführt, am freigelegten sandigen Ufer sah er einen einzelnen Storch stehen. Die Reisegesellschaft fürchtete, dass die Dampfschiffe ab Würzburg, die im Sommer 1852 täglich nach Frankfurt fuhren, nicht mehr verkehrten.
Kaum Ruhe im Anker in Gemünden
In Gemünden ließ man sich im "Anker" nieder, wo es gute Unterhaltung und annehmbare Unterbringung gab. Unter ihren Fenstern stand jedoch ein öffentlicher Pumpbrunnen, der unaufhörlich in Gebrauch war und quietschte. Um elf Uhr abends hatte das Quietschen noch nicht aufgehört und um drei in der Nacht ging es schon wieder los. Eine ganze frühmorgendliche Stunde lang verbrachten sie damit, das Treiben der Wasserträgerinnen zu beobachten, deren Kleidung und Verhalten ihnen fremd war. Manche verwendeten eine hölzerne Wasserbutte.

Sobald es das Tageslicht zuließ, stiegen sie durch eine "sehr schmutzige Straße", wo sie sich fragten, wie dort jemand leben könne, hinauf zur Scherenburg. Eine steile Kletterpartie durch einen Weinberg brachte sie in den Innenhof. Der intakte Bergfried war in privater Hand, schrieb Tylor. Ein junger Priester ging, in Kontemplation versunken, alleine auf und ab. Der erzählte die "uninteressante" Geschichte der Ruine und zeigte ihnen Aushöhlungen im Fels.
Mit dem doch verkehrenden Dampfschiff ging es weiter nach Frankfurt. Schon um acht Uhr morgens war die Hitze kaum erträglich. Gleich hinter Gemünden kamen sie an Schiffsladungen voller steinerner Flaschen vorbei, die von Gemünden aus mit dem Wagen nach Bad Kissingen gebracht und dort mit Mineralwasser für den Export gefüllt werden sollten.
Mit dem Dampfer überholten sie Flöße, die auf dem Weg zum Rhein waren. In Miltenberg abgebaute Steine wurden in der "blühenden Stadt" Lohr entladen, von wo aus mit dem Wagen sie nach Hain gebracht wurden, wo gerade ein Tunnel und ein Viadukt entstanden. Die Straße war häufig mit langen Zügen von Wägen voll.

Tylor angetan vom Maintal mit seinen Schlössern und Burgen
Die Reise den Main hinab war für Tylor extrem interessant. "Wir waren tatsächlich nicht vorbereitet auf eine solche Vielzahl an feudalen Türmen und historischen Ruinen." Die zahlreichen Schlösser und Burgen, die allein oberhalb des mäandernden Tales und ruhigen Dörfern zu ihren Füßen standen, waren für den Reisenden voller romantischer Schönheit. Er nennt Rothenfels und Homburg, letzteres ein Bau von fürstlichem Ausmaß aber "von geringem architektonischem Geschmack".
Ein Mitreisender, der sich beschwerte, dass der Dampfer erst spät am Abend in Frankfurt ankommen würde, wurde vom Schiffer beschieden, dass es bei 46 Zentimeter Wassertiefe nicht schneller gehe. Ohne umsichtiges Fahren wären sie sicher auf Grund gelaufen, schrieb Tylor. An den in England hergestellten Maschinen sei es sicher nicht gelegen. Über Frankfurt, Mainz, Köln und Aachen ging es zurück nach Belgien und von dort nach England.