
Rexroth beziehungsweise heute Bosch-Rexroth ist nicht das erste große Unternehmen mit Weltrang in Lohr am Main. Dieser Rang gebührt der 1698 gegründeten Mainzer Spiegelmanufaktur, in deren Gebäude Rexroth im 19. Jahrhundert sogar seinen Anfang nahm. Sie belieferte im 18. Jahrhundert Fürsten- und Königshöfe in ganz Europa einschließlich Wien mit höfischen Spiegeln der Spitzenklasse. Sie ist ein Markstein in der Geschichte Lohrs.

Der Anfang dieser Erfolgsgeschichte, sozusagen die Geburtsstunde der Lohrer Manufaktur, lag jedoch nicht im Spessart, sondern in Frankreich. Geburtshelfer war der spätere Hüttendirektor der zunächst im Dörfchen St. Gobain in der Normandie angesiedelten königlichen Glasmanufaktur, Louis Lucas de Nehou. Er entwickelte ab 1688 im 1000 Kilometer von Lohr entfernten Tour-la-Ville bei Cherbourg an der Atlantikküste ein völlig neues Verfahren zur Herstellung von mannshohem Flach- und damit Spiegelglas. Höfische Spiegel in größeren Abmessungen denn je zuvor ließen sich mit diesem neuen Verfahren geradezu mühelos herstellen.

Objekte der von de Nehou ermöglichten Größe wären weit über die Lungenkraft und Gesundheit eines jeden Glasbläsers hinausgegangen. Sie konnten nur kleine Scheiben und Spiegel herstellen. Nach dem neuen Guss- und Walzverfahren wurde dagegen – stark vereinfacht - die Glasschmelze auf ebenen Gießtischen ausgegossen, sodann - wie Kuchenteig – durch eine Art von Teigrolle glatt gewalzt und schließlich mit Sand geschliffen.
Einiges musste allerdings zusammenkommen, dass in Lohr am Ostrand des Spessarts ein solches Unternehmen entstehen konnte. Eine Gruppe von Glasmachern aus besagtem Tour-la-Ville war durch Monopolisierung der Spiegelherstellung im Raum Paris praktisch über Nacht brotlos geworden. Nach einem kurzen Engagement in Neustadt an der Dosse (Brandenburg) waren sie wieder auf der Suche nach einer Anstellung.

Durch seinen Hofalchimisten Christoph Diem war der repräsentationsfreudige Kurfürst (1693-1729), Erzkanzler und engagierter Bauherr Lothar Franz von Schönborn auf diese Gruppe aufmerksam gemacht worden. Der Kurfürst zögerte nicht und nahm die Franzosen unter anderem mit dem genialen und später langjährigen Manufakturdirektor Guillaume Brument 1698 unter Vertrag. So kam die von de Nehou erfundene, östlich des Rheins noch nicht bekannte Technologie zur Herstellung großer Spiegel in den Spessart, zunächst als französischer Privatbetrieb.
Dem Kurfürst gelang es so, für die Ausstattung seiner Schlösser in Gaibach, Pommersfelden, Seehof, Wiesentheid, Bamberg und an anderen Orten eine eigene Spiegelproduktion nach dem Vorbild des Sonnenkönigs Ludwig XIV in Versailles aufzubauen. Dies auch, um sich von den politischen Unwägbarkeiten im Verhältnis zu Frankreich unabhängig zu machen.

Sein Hofkammerrat Johann Wilhelm Tautphoeus, von 1683-1691 Amtskeller in Lohr, hatte sogleich die Örtlichkeiten in seinem ehemaligen Amtsbezirk parat. Sie gefielen auch den Franzosen. Der Kernbetrieb, die Spiegelhütte, wurde eine kurz zuvor vakant gewordene kurmainzische Glashütte in Rechtenbach bei Lohr. Holz war in den kurmainzischen Waldungen rund um Rechtenbach im Überfluss vorhanden.
Erst kurz vorher waren die Eigentumsverhältnisse mit Hessen-Hanau im Sinne des Kurstaats langfristig geklärt worden, was auch erforderlich war: Der benachbarte große Lohrer Stadtwald war städtisches Eigentum, was auch Mainz zu beachten hatte. Lohr bot mit seinen damals etwa 1400 Einwohnern dafür das erforderliche Arbeitskräftepotential. Die Stadt lag zudem am Main. Sie hatte damit Anschluss an die wichtigen Absatzmärkte entlang des Rheins mit seinen großen Städten bis hin in die Niederlande mit seinen wohlhabenden Kolonieverwaltungen in Übersee.
Spanisches Soda geschmeidiger als Spessarter Pottasche
Umgekehrt lag den Franzosen von Anfang an an der Mainanbindung für die Zulieferung der diversen und in Mengen benötigten Materialien zum Glasmachen. Dazu gehörten spezieller Sand und das hochwertige Soda aus dem 3000 Kilometern entfernten spanischen Alicante, das auf dem Seeweg über Amsterdam auf Rhein und Main nach Lohr kam und das sie von zu Hause her schätzten. Das spanische Soda machte das Rechtenbacher Glas geschmeidiger und damit für den Schleifprozess viel einfacher zu handhaben als etwa Pottasche aus dem Spessart. Diesem spanischen Sodazusatz verdankten die Lohrer Spiegel mit ihre Schönheit und ihren Ruf in Europa und der Welt!
Das Investitionsvolumen in den Betrieb Rechtenbach/Lohr belief sich mit 50 000 Gulden auf fast ein Viertel des ohnehin hoch verschuldeten kurmainzischen Staatshaushalts von jährlich über 200 000 Gulden. Diese Summe war für damalige wie heutige Verhältnisse immens und hochspekulativ. Der Kurfürst nahm damit erhebliche finanzielle Risiken in Kauf, die er 1703 nach internen Problemen der Franzosen durch Übernahme des Privatbetriebs in kurmainzische Staatsregie erfolgreich auffing.
Dem nunmehr alleinigen Direktor der Lohrer Spiegelmanufaktur, Guillaume Brument kam bei allen Startschwierigkeiten für den Erfolg dieses ökonomisch über Jahrzehnte hin florierenden Betriebs das größte Verdienst zu. Seine Vernetzung mit dem nahen Finanz- und Handelsplatz Frankfurt war Teil dieses Erfolgs. So zahlte Brument innerhalb weniger Jahre das ihm vom Kurfürsten vorgeschossene Kapital auf Heller und Pfennig zurück und verschaffte dem Hause Schönborn darüber hinaus geradezu fürstliche Erträge. Die nicht minder lukrative Massenglasproduktion ab 1706 in Weibersbrunn trug zu diesem guten betriebswirtschaftlichen Ergebnis mit bei.

Die Lohrer Spiegelmanufaktur wurde so zu einem europäischen Spitzenunternehmen, wie die Grafik zeigt. Die Technologie kam aus Tour-la-Ville, wichtige Rohstoffe kamen auf dem Seeweg aus Alicante. Es gab Verbindungen zu den Finanz- und Handelszentren Frankfurt und Amsterdam. Selbst an den Wiener Hof wurden Spiegel geliefert. Mit Versailles und Venedig konnten sich die Lohrer Spiegel jederzeit messen.
Guillaume Brument war ein Glücksfall
Die Lohrer Manufaktur stellte bald alle vergleichbaren Unternehmungen in Deutschland in den Schatten und behielt unter Brument gegenüber den Konkurrenten die Nase stets vorn. Franz von Schönborn hatte ein „Riesenglück“ mit Brument, erklärte Werner Loibl, der Verfasser des 2700 Seiten umfassenden Standardwerks zur Lohrer Spiegelmanufaktur.
Wie Loibls Forschungen ergaben, erfolgte in Lohr über die ganzen Jahre hindurch auch die komplette Veredelung zum Spiegel einschließlich der kunstvollen Spiegelumrahmungen. Dafür gab es eine eigene Zieratschleiferei auf dem Werksgelände. Einen gesonderten hierüber geplanten Band schaffte der viel zu früh verstorbene Glasforscher Loibl leider nicht mehr .
Lohr knüpfte mit der Spitzentechnologie aus der Normandie nicht nur an die Pracht des Spiegelsaals von Versailles an. In kürzester Zeit konnten sich die Lohrer Spiegel auch mit den venezianischen Spiegeln messen, die damals das Maß aller Dinge waren. Die Lohrer Spiegelmanufaktur lieferte an alle großen Fürstenhäuser Europas und exportierte sogar bis nach Indien und Amerika. Die Jahre zwischen 1730 und 1760 mit ihrem Bauboom auch in den Städten in ganz Europa waren die goldenen Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Auch für das Lohrer Unternehmen.

Die Spitzenleistungen der französischen Glasmacher, bei denen es auf höchste Fertigkeiten ankam, waren schier unvorstellbar, gemessen an den schweren Arbeits- und Produktionsbedingungen. Allein die regelmäßigen Überschwemmungen, die den Hauptbetrieb von der aus dem Spessart kommenden Lohr und vom nahen Main heimsuchten, lassen dies erahnen. Ein solches Hochwasser machte 1732 sogar einen Neubau erforderlich. Ein kurfürstliches Wappen zeugt noch heute davon. In Rechtenbach war die Lage aber auch nicht viel besser. Dass man dies alles in Kauf nahm, zeigt wie wichtig den Franzosen der Main bei der Standortwahl war. Er verband den Betrieb mit dem Rhein, über den das Soda aus Alicante kam und die Spiegel von Lohr auf dem Wasserweg in die Welt gingen.

Unvorstellbar schließlich, dass alles zwischen Lohr und Rechtenbach über den fast 456 Meter hohen Rothenberg auf einem eigens angelegten „Glashütterweg“ transportiert werden musste. Noch immer sind die Wege oft grundlos und halsbrecherisch. Der Bau einer Straße durch das Rechtenbacher Tal, aus heutiger Sicht der nächstliegende Gedanke, wurde technisch erst durch den Chausseebau aus Frankreich im 19. Jahrhundert möglich. Viel zu spät für das Unternehmen. Die Steilstrecken nach Lohr hinein mit zirka 300 Metern Höhenunterschied bedeuteten auf der insgesamt nur zirka sieben Kilometer langen Strecke das vorzeitige Aus für so manchen der bis zu zwei Meter hohen und 1,5 Meter breiten und bis zu sechs Zentner schweren Spiegelrohlinge auf dem Weg von Rechtenbach nach Lohr.
Manufaktur schloss 1806 ihre Tore
Trotz alledem war das Unternehmen mit seinen absoluten Spitzenprodukten erfolgreich, solange der Absatz und die Rahmenbedingungen stimmten. Der Tod des 88-jährigen Guillaume Brument 1759 war der erste gravierende Einschnitt. Mit dem siebenjährigen Krieg aller gegen alle in Europa 1756 - 1763 – erneut um Schlesien, mit der daraus folgenden langen Rezession in Europa, dem Erliegen des aus dem Überschwang des Barocks und Rokokos resultierenden Baubooms und schließlich mit der französischen Revolution gingen langsam aber sicher die Lichter der Spiegelhütte in Rechtenbach und schließlich auch die der Manufaktur in Lohr aus. Höfische Pracht war nicht mehr gefragt. Die Manufaktur schloss nach einem langen und schmerzhaften Abstiegsprozess 1806 mit der Verpachtung von Weibersbrunn für immer ihre Tore.

Die legendären „Lohrer Spiegel“ von damals sind jedoch auch nach über 200 Jahren nicht vergessen. Im Spessartmuseum in Lohr sind mit dem berühmten „Schneewittchenspiegel“ insgesamt elf Originalspiegel aus der damaligen Produktion zu sehen. Ein weiterer Spiegel aus dem Besitz von Petra Stumpf-Mecklinger erinnert in der Eingangshalle des neuen Lohrer Rathauses seit 2020 die Rathausbesucher an dieses erste Lohrer Unternehmen von Weltrang. Auch Lohrs Prädikat als „Schneewittchenstadt“ wäre ohne diese Spiegel bekanntlich undenkbar.
Zum Autor: Dr. iur. Wolfgang Vorwerk, Generalkonsul a.D., publiziert seit 1978 zu historischen Themen des Spessarts. Seit November 2017 ist er Vorsitzender des Geschichts- und Museumsvereins Lohr.
Literatur: Werner Loibl: Die kurmainzische Spiegelmanufaktur Lohr am Main (1698-1806) und die Nachfolgebetriebe im Spessart. 3 Bände, Aschaffenburg 2012, zu Werner Loibl: https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Loibl
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter www.mainpost.de/geschichte_mspL.