
Schon zu Lebzeiten genossen die beiden Wiesenfelder Schwestern Mathilde und Maria Prochus Legendenstatus, ihr Leben umweht der Hauch des Sagenhaften. Als Mathilde (1863–1954) zu Hause unter dem Dach des gemeinsamen, heruntergekommenen Häuschens starb, nahm eine Lehrerin ihre ganze Klasse mit dorthin, damit die Kinder "die Thild" noch einmal sehen konnten. Ansonsten sind nur ganze zwei Fotos bekannt, auf denen sie zu sehen ist. Von Maria (1878–1964, "Mari" oder "Mary" genannt), die an ihrem Lebensende die wohl älteste aktive Jägerin Deutschlands war, wie es angeblich der "Stern" schrieb, sind einige mehr überliefert. Der Begriff "Originale" wäre stark untertrieben, die beiden waren äußerst eigen.
Auch heute noch kennen viele Wiesenfelder Anekdoten aus dem Leben der Schwestern, die eher nach Roman als nach Wirklichkeit klingen. "Mir woar, wie wenn mich der Deifl düwe rü geritte hätt", soll etwa Martin Gopp bis an sein Lebensende immer wieder über eine Begebenheit mit der Älteren erzählt haben. Der Wiesenfelder Gemeindeschäfer, Jahrgang 1871, musste im Alter von etwa 20 Jahren zusammen mit Mathilde vor einigen Steinfeldern flüchten, die ihnen ans Leder wollten. Offenbar hatte sie wieder mal Tauben verkauft, die aber stets alle zu ihr zurückkamen. Weil Gopp zu langsam war, soll Mathilde ihn kurzerhand auf die Schultern geladen haben und so mit ihm drei, vier Kilometer querfeldein nach Wiesenfeld gerannt sein. Erst dort hat sie ihn angeblich unsanft abgeladen.

Die bekannteste Geschichte von Maria hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg zugetragen. Der Besitz von Schusswaffen war damals verboten, die Jagd den Amerikanern vorbehalten. Maria – mit zwölf soll sie ihren ersten Rehbock geschossen haben – lebte jedoch von der Jagd. Als sie nun wieder einmal verbotenerweise auf der Pirsch war, näherte sich plötzlich ein Army-Jeep. Geschwind sprang die bald 70-Jährige mit einem Gewehr in der Hand frei vom drei Meter hohen Hochsitz herunter, angeblich in ein Dornengestrüpp, und verschwand in den Büschen. 1952 erzählte sie die Geschichte selbst der Main-Post.
Hat Mathilde Prochus als Mann verkleidet am Feldzug in Polen teilgenommen
"Die Prochus hat ein groß' Revier, sie schlingt und schießt gar manches Tier", hat ihre Schwester Mathilde einmal über sie gedichtet. Auch um Großeibstadt (Rhön-Grabfeld) und im Odenwald um Rüdenau (Lkr. Miltenberg) ging sie Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Pirsch, da sie dort als Haushälterin für ihren Bruder Franz tätig war. Der wirkte an den beiden Orten als Pfarrer, bis er jeweils wegen Beziehungen zu Frauen und angeblich mehreren gezeugten Kindern versetzt beziehungsweise beurlaubt worden war.
Die beiden doch recht ungleichen Schwestern stehen im Ruf, blitzgescheit und raffiniert und obendrein unheimlich kräftig und zäh gewesen zu sein. So sonderlich sie auch gewesen sein mögen, spricht man doch mit Respekt von ihnen. Mathilde, heißt es, sei stark wie ein Mann gewesen und habe sich in jüngeren Jahren mit mehreren kräftigen jungen Kerlen gleichzeitig geprügelt. Ihr Großneffe, Enkel einer weiteren Prochus-Schwester, kennt die Geschichte, dass Mathilde im Ersten Weltkrieg gar in Männerkleidung am Feldzug in Polen teilgenommen haben soll. Jedenfalls soll sie einst Gutsverwalterin in Ostpreußen gewesen sein. Auf Schloss Arnsberg im Altmühltal war sie zudem einst Beschließerin und soll dort den späteren Würzburger Bischof Matthias Ehrenfried mit selbst gejagtem Wild versorgt haben.
Gerüchtehalber waren die beiden "Mannweiber" Zwitter, heute würde man sagen intersexuell. Der inzwischen verstorbene Herbert Wolf hat einmal erzählt, dass die Mutter der Schwestern zu seiner Großmutter gesagt habe, sie wüssten gar nicht, was sie den beiden anziehen solle – ob Röcke oder Hosen.

Bis zuletzt lebten beide in ihrem abenteuerlichen Elternhaus in der Wiesenfelder Ortsmitte, Maria unten mit oft kaputten Scheiben in der Schlafkammer, Mathilde oben, das Plumpsklo im Hof. Ihr Vater war Jagdverwalter in dem rund 5000 Hektar großen Revier der Freiherren von Hutten in Steinbach gewesen. Maria hat nach dem Tod von Friedrich Karl von Hutten 1940 sein gutes Gewehr bekommen. Dessen Enkelin Katrine von Hutten hat auch ein Gedicht über sie geschrieben.
Abenteuerliche Wohnsituation
Maria lebte mit ihren Jagdhunden zusammen und zog ab und zu verletzte oder verwaiste Rehkitze auf, ein dreibeiniger Rehbock soll sogar bei ihr im Bett geschlafen haben. Und auch einen Dompfaff hielt sie in der Stube. Bei Mathilde hätten bisweilen 20 bis 30 Kanarienvögel gehaust, erzählt man sich. Passanten mussten sich in Acht nehmen vor dem Inhalt ihres Nachttopfs – einen Jungen auf dem Weg zur Schule soll es einst voll getroffen haben.
Fließend Wasser gab es bei den Schwestern zu Hause nicht, Marias Hunde tranken aus einem Eimer dasselbe Wasser wie sie. Durch ihre Stube huschten Ratten, an großen Fleischhaken an der Decke hängte sie Jagdwild zum Abziehen auf, um die Kadaver und Bälge schwirrten Schmeißfliegen. Karl Scheuring, Sohn des damaligen Dorflehrers, hat erzählt, dass Maria einmal an seinem Kopf vorbei mit ihrem Stutzen eine Ratte in der Stube erschoss. Auch zum Fenster hinaus soll sie gern auf Ratten geschossen haben. Maria züchtete Marder und Bienen. Um den Nachbarskindern zu demonstrieren, dass Bienen ungefährlich sind, setzte Maria sich einmal eine Bienenkönigin auf den Brustkorb, woraufhin sich die Bienen auf Marias ganze Vorderseite setzten, auch auf das ungeschützte Gesicht.
Die Schwestern hatten großen Humor. Dem eingenickten Dorflehrer Scheuring soll Maria einst die Asche von der Zigarrenspitze geschossen haben, den Sohn im Keller nach Most und Äpfeln geschickt haben, und wenn er dabei in eine Rattenfalle griff, derb gelacht haben. Vor allem Mathilde war bekannt für ihre Späße. In der Kirche hat sie angeblich statt "Bitt für uns, heiliger Sebastian" einmal "heiliger Säübastian" (weil ein Wiesenfelder wegen seiner Schweinehaltung "Säübast" genannt wurde) gesungen. Einem Wiesenfelder, der für eine Wette um Mitternacht einen brennenden Strohballen vom Turm der Ruine Schönrain warf, soll sie dabei solche Angst eingejagt haben, dass er es nie wieder tun würde, wie er sagte.

Die sehr belesene Mathilde (angeblich war sie Klosterschülerin) tat sich immer wieder durch Verse, meist ehrrührige, hervor. Schon zur Wahl des Bürgermeisters 1887/88 hatte sie ein 30-strophiges Gedicht verfasst. Darin schildert sie das aufgeregte Treiben vor der Wahl und gibt vor allem die "Roten" der Lächerlichkeit preis. Nach der Reichspogromnacht 1938 dann soll sie spöttische Verse ans Hoftor von Nazisympathisanten gehängt haben. Wenn es in der Dorfbevölkerung darum ging, Schreibarbeiten zu erledigen, war sie gefragt.
In der Wiesenfelder Kirchenkuppel liegt ein besonderes Zeugnis aus ihrer Feder, das unterstreicht, welch wichtige Rolle sie im Dorf spielte. Im August 1936 schrieb die lebenslange Verehrerin König Ludwigs, dass es jetzt im ganzen Reich schlecht stehe, Gott die Nazis aus dem Dorf entfernen möge und dass dieses mit Gottes Hilfe wieder bayerisch werde. Das Dokument schließt mit "Heil Patrona Bavaria". Auch mit dem deutschen Kaiser hatte sie sich schwergetan. 1903 wurde sie wegen Beleidigung des Kaiserpaares zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Noch im Gerichtssaal soll sie den Kaiser als "Lump" bezeichnet haben.
Mathilde war eine Eigenbrötlerin, trug immer einen langen Manchesterrock und darüber eine Schürze, die oft nicht besonders sauber war. Sie besaß eine nicht selten verschmierte Brille, rauchte Zigarre und angeblich auch Pfeife. Zu Maria, die zu ihrer imposanten Statur stets Jägerkleidung, gewaltige Schnürschuhe (angeblich Größe 47/48) und Baskenmütze trug, kamen häufig feine Leute, darunter Architekten, Lehrer und Schriftsteller, zu Besuch. Sie tauschten sich mit der erfahrenen Jägerin aus, lernten von ihr und gingen mit ihr auf die Jagd. Wenn Mathilde der Besuch ihrer Schwester wieder einmal nicht passte, soll sie "Bagage!" murmelnd zur Tür hinausgegangen sein. Im Artikel über ihren 85. Geburtstag zeigte sich ein "Volksblatt"-Reporter schwer beeindruckt von Maria. "Wer Maria Prochus mit dem Drahthaar Cora, dem Drilling (einer dreiläufigen Flinte, Anm. d. Red.) unterm Arm, auf der Pirsch begegnet, meint einem Trapper aus Karl Mays Büchern gegenüberzustehen."
Gerne erzählt man sich die Geschichte, als Maria einmal ihr Gebiss nicht mehr finden konnte. Kurzerhand ging sie zur Nachbarin und fragte, ob die noch das ihres verstorbenen Gatten habe. "Passt ausgezeichnet", soll sie gesagt haben, als sie ihre neuen Zähne eingesetzt hatte. Erst Monate später soll sie unter ihrem Nachttisch ihr eigenes Gebiss in einem Rattenloch steckend wiedergefunden haben. Freudig hat sie angeblich geäußert, jetzt habe sie eins für Sonntage und eins für Werktage. In jungen Jahren, so heißt es, habe sie aus Versehen einen von ihrem Vater als Fuchsköder mit Strychnin behandelten Fisch gegessen. Da das Gift für den Menschen normalerweise tödlich ist, habe ihr Vater gleich den Pfarrer geholt, der ihr die letzte Ölung gab. Doch Maria soll noch nicht einmal Bauchschmerzen gehabt haben.

Die beiden ledig und kinderlos gebliebenen, als barsch, aber sehr kinderlieb bekannten eigenwilligen Schwestern taugen nur bedingt als Heldinnen, worauf sie aber sicher auch gar keinen Wert gelegt hätten. Mathilde beispielsweise schoss den Wiesenfelder Juden angeblich gerne mit einem Zimmerstutzen die Nachttöpfe kaputt. Außerdem soll sie einer jüdischen Familie einmal in den Bottich mit sauren Gurken gepinkelt haben. Während sie jedoch sehr früh offen gegen Hitler war, ließ ihre jüngere Schwester, seit 1937 Mitglied der NSDAP, angeblich bis zuletzt nichts über ihn kommen. Auch wegen Mathildes offener Kritik an Marias Haltung sind sie sich am Ende wohl nicht mehr grün gewesen.

Während Mathilde plötzlich verstarb, lag Maria vor ihrem Tod zehn Tage lang im Bett. Angeblich hat ihr ein brünftiger zahmer Rehbock eine Verletzung am Bein zugefügt, die nicht heilen wollte. Auf dem Sterbebett bekam ein Bekannter noch den Auftrag, dass er zu jedem Bienenstock hingehen und sagen sollte: "Die Herrin ist tot." Sonst gingen sie ein. Im Sterben liegend soll sie auch gesagt haben: "Mir hat es gefallen auf dieser Welt."
Das marode Häuschen der beiden wurde bald abgerissen. Ihr gemeinsamer Grabstein war noch bis 1992 auf dem Wiesenfelder Friedhof, dann wurde er wohl entsorgt. Großneffe Dieter Betz hatte sich 1990 in einem Brief an die Stadt Karlstadt dafür eingesetzt, den Grabstein der "schon zu Lebzeiten legendären Frauengestalten", der von Jagdgenossen immer noch aufgesucht werde, zu erhalten. Aber der damalige Bürgermeister Werner Hofmann wollte ihn weder dort erhalten, noch an anderer Stelle im Friedhof aufstellen. Das Grab müsse aus wirtschaftlichen Gründen neu vergeben werden, schrieb er. Bis heute ist die Grabstätte unbelegt.
Literatur: Björn Kohlhepp, "Die legendären Schwestern Mathilde und Maria Prochus", im Jahrbuch der Stadt Karlstadt 2010/11.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter /dossier/geschichte-der-region-main-spessart
B. Kohlhepp