Donnerstag, kurz vor 20 Uhr. Der Dezemberabend, keine zwei Wochen vor Weihnachten, ist eisig kalt, die Zufahrt zum Pfarrheim in der Lengfurter Straße in Kreuzwertheim schneebedeckt. Einige parkenden Autos säumen die Straße, sonst ist niemand zu sehen - aber zu hören.
Bereits im Vorraum des Pfarrheims dringt Musik durch die geschlossenen Türen. Männerstimmen, eine Klavierbegleitung, durchbrochen von kurzen, leicht heiseren Ansagen. Sie gehören zu Otto Vogel. Der frühere Lehrer ist seit 48 Jahren Chorleiter des Männergesangverein Kreuzwertheim. Mit einem dicken Schal um den Hals sitzt er hinter dem E-Piano an der Stirnseite des Raumes. Vor ihm in zwei Stuhlreihen 19 Männer, je eine Gesangspartitur in der Hand. "Uuuund bitte!", ruft Otto Vogel, trotzt seiner Heiserkeit, und schlägt die Töne von "Ihr von Morgen" von Udo Jürgens an. "Werdet wissen, was aus dieser Erde wird", antworten 19 Männerstimmen in Bass und Tenor.
30 aktive Sänger und ein Altersdurchschnitt von 69 Jahren - das sind die Eckdaten des Männergesangverein 1881 Kreuzwertheim. Dass an der wöchentlichen Probe am Donnerstagabend "nur" 19 da sind, liegt zum einen an der aktuellen Krankheitswelle. Allerdings sind auch viele Mitsänger durch Corona abhanden gekommen. "Sie trauen sich einfach noch nicht, zu kommen", erzählt Andreas Schmidt. Der 61-Jährige ist Vorsitzende und auch aktiver Sänger des Vereins, seit knapp 48 Jahren. "Ich bin mit 14 Jahren durch meinen Vater zum Männergesangverein gekommen, der war auch schon Vorsitzender", erzählt er. Was ihn aber auch unfreiwillig auszeichnete: "Ich war ewig der Jüngste."
Überalterung und Nachwuchsmangel - die zwei Begriffe fallen beim Thema Männerchor schnell. Der Kreuzwertheimer Verein macht da keine Ausnahme. Und doch hat man hier nicht das Gefühl, dass hier einige wenige etwas zusammenhalten, was auseinanderzubrechen droht. Im Gegenteil. Dafür gibt es zwei Gründe: Der eine sitzt an diesem Abend in der hinteren Reihe und singt im ersten Bass. Mit seinen 17 Jahren ist Michael Groß mit Abstand der jüngste Sänger. Sein 23-jähriger Bruder Markus ist normalerweise auch dabei, an diesem Abend aber verhindert. "Markus ist vor drei Jahren in den Chor eingetreten und hat mich dann nach einem Jahr nachgezogen", erzählt der 17-jährige Kreuzwertheimer. Für ihn ist das Hobby am Abend ein idealer Ausgleich. 2023 steht sein Abitur an. Tagsüber muss er deshalb oft lernen.
Das Singen am Abend entspannt ihn. "Die Musik motiviert mich und ich nehme die Melodien nach der Probe oft mit nach Hause, hab' sie noch lange im Ohr", beschreibt er, was ihm an den anderthalb Stunden gefällt und antreibt, immer wiederzukommen. Auch merkt er, dass sich seine Stimme verbessert und er die schweren, hohen Töne immer besser trifft.
Dazu kommt der etwas andere Klang eines Männerchores, der seinen ganz eigenen Reiz hat und der vielleicht ebenfalls ein Grund ist, warum der Kreuzwertheimer Verein "singfähig" bleibt. Durch das Volumen, gerade in den tiefen Tönen bekommen die Stücke eine dunkle, warme Note. Wie sich das anhört, gibt der Chor dann auch in dem Stück "Abendruhe" von Rolf Kern zum Besten. "Oft heißt es, ein Männerchor klingt weicher als zum Beispiel ein gemischter Chor", erklärt Chorleiter Otto Vogel.
Das Herausfordernde und gleichzeitig Schöne für alle Sänger: Im Chor werden sie Teil eines Gesamtklangbildes. Dazu gehört auch, seine Stimme beharrlich durchzusingen, auch wenn sie nicht die Melodietragende ist. "Viele haben keine Vorstellung davon, wie viel Abstimmung dazu gehört, im Chor zu singen", beschreibt Lothar Amend. Er sitzt ein paar Plätze neben Michael Groß. 50 Jahre lang hat er beim MGV Dörlesberg in Wertheim gesungen. Jetzt verstärkt er in Kreuzwertheim den 2. Tenor.
Geht man die Reihen weiter, zeigt sich, wie viele Sänger schon ewig dabei sind oder in anderen Ortschaften gesungen haben und gewechselt sind. "Wir haben Sänger aus Bischbrunn, Marktheidenfeld, Wertheim und Kreuzwertheim mit seinen Ortsteilen", zählt Vorstand Schmidt auf. Das älteste Mitglied ist 97 Jahre alt, der älteste aktive Sänger 92. "Wer einmal irgendwo mit dem Singen angefangen hat, bleibt meist dabei", so Schmidt. Und noch eine Erfahrung hat er gemacht: "Man bekommt neue Sänger am ehesten, in dem man sie direkt anspricht." Da könnte der Verein Werbeblätter schreiben und aufhängen so viel er wolle. "Jeder, der einmal da ist, geht nicht wieder weg."
Um die Alterspanne auch in der Auswahl der Lieder abzuholen, variiert Chorleiter Vogel das Repertoire vom klassischen Volkslied bis zu Liedern von Hanne Haller, Udo Jürgens und auch mal "An Tagen wie diesen" von den Toten Hosen. "Wir singen zum Beispiel keine Lieder auf englisch, weil nicht alle mit dem "th" klar kommen", so Vogel. Dafür gibt es Lieder auf Italienisch oder Latein.
Was aber nach jeder Probe in Kreuzwertheim nicht fehlen darf, ist die Geselligkeit. Kaum ist das letzte Lied verklungen, werden die Stühle beiseite geräumt und Tische gestellt und es geht mit Schafkopf und Schach weiter. Zuvor aber verabschieden sich die Sänger von denen, die keine Zeit oder Lust zum Spielen haben. Und das, natürlich, gesungen: "Wenn Sänger auseinandergehen, dann sagen sie auf Wiedersehen. Wenn Sänger auseinandergehen, dann freuen sie sich aufs Wiedersehen." Nach diesem Zweizeiler ist Otto Vogel noch heiserer, als zu Beginn der Probe - aber er wirkt sehr zufrieden.