
Wenn Christine Schneider, eine Frau, die seit ihrer Heirat nicht nur so heißt, sondern auch eben jenen Beruf erlernt hat, sagt: "Handarbeit ist für mich das Schlimmste", dann ist das wohl keine gute Werbung. Aber darauf legt sie sowieso keinen Wert. Die Rettersheimerin, die viele nur als "Christel" kennen, sagt geradeheraus was sie denkt, macht mit ihren 68 Jahren nur noch das, worauf sie Lust hat.
Arbeit hat sie dennoch genug. Auf ihrer Ladentheke in der Schneiderei Michel stapeln sich Hosen, Röcke, Blusen und Jackets von Kundinnen und Kunden, die darauf warten, geändert zu werden. Kaum noch jemand frage Maßanfertigungen an. Kleidung von der Stange sei wesentlich günstiger, sagt Schneider. Bis vor ein paar Jahren hat sie für einige Showtanzgruppen der umliegenden Faschingsvereine Kostüme genäht. Das sei ihr mittlerweile zu stressig, weil alle ihren Sachen vor Weihnachten fertig haben wollen.
Schneiderlehre im Industriebetrieb begann mit Handarbeit
Trotz ihrer 68 Jahre, einem Alter, in dem andere längst in Ruhestand sind, denkt sie nicht ans Aufhören. "Solange ich fit bin und es mir Spaß macht, mache ich weiter." Sie könne sich nicht vorstellen, im Sessel zu sitzen und darauf zu warten, dass der Tag vorbeizieht. Stattdessen genießt sie ihre Arbeit an den Nähmaschinen, die größtenteils so alt sind, wie sie selbst, aber noch ebenso gut laufen, meint sie. Daneben ein Holzregal und der Verkaufstisch, an dem schon ihre Mutter Stoffe auf Kundenwunsch zugeschnitten hat. "Ich kann Stücke bis zu eineinhalb Meter auf den Zentimeter genau schätzen", sagt sie stolz.

Regelmäßig schneidere sie nur noch für die Grafschafts-Trachtengruppe "Die Glasf'lder" neue Kleidungsstücke. "Die Zierborten müssen die Frauen aber selbst sticken, das mache ich nicht gerne." Schon als Mädchen mühte sie sich an Handarbeit ab. Vor allem deshalb habe sie sich entschieden, ihre Schneiderlehre in einem Industriebetrieb mit 400 Mitarbeitenden zu absolvieren – und wurde gleich am ersten Ausbildungstag enttäuscht: "Wir mussten uns an den Handarbeitstisch setzen und Knopflöcher nähen." Der Schneidermeisterin sei es sehr wichtig gewesen, dass die Lehrmädchen das lernen würden. Längst sei das nicht mehr so. Sie bedauert, dass die handwerklichen Fertigkeiten verloren gehen würden.
Vom Handarbeitsgeschäft zur Schneiderei im heimischen Wohnzimmer
1950 gründeten Heinrich und Therese Michel, die Eltern von Christine Schneider, in Rettersheim ein Geschäft. Sie verkaufte dort vor allem Stoffe und Strickwolle. Nebenbei nähte sie Arbeitshosen für Männer, Bettwäsche und Handtücher. Und sie strickte Socken, die sie feilboten. Heinrich Michel, der vor dem Ersten Weltkrieg Maschinenbau studierte, arbeitete bei Kurtz in Hasloch. In den 1960er Jahren erweiterten der Maschinenbauingenieur und seine Frau den Betrieb zu einer Schneiderei. Sie bauten ein Haus mit Verkaufsraum. "Anfangs kamen Frauen aus dem Ort in unser Wohnzimmer und nähten Kinderkleider, vor allem lange und kurze Hosen", erinnert sich Christine Schneider.
Ein selbstständiger Handelsvertreter hat die Kleidungsstücke im gesamten unterfränkischen Raum, von Aschaffenburg bis nach Schweinfurt, verkauft. "Später hat ein Vertreter aus Würzburg unbedingt Röcke von uns haben wollen", so Schneider. Die Schneiderei wurde zur Rock-Fabrik. Der Familienbetrieb hat zudem viele Jahre lang in Lohn für andere Unternehmen gefertigt.

Zwei Kollektionen Landhaus-Trachten für Norddeutschland
Als 1972 die Industriehalle an der Kirchstraße gebaut wurde, in der Christine Schneider heute alleine Hosenbunde weitet und Knopflöcher näht, hatte die Kleiderfabrik Michel etwa 30 Angestellte, erinnert sie sich. Hergestellt wurden zu jener Zeit Röcke, Blusen, Mieder für Landhaus-Trachten, eine Sommer- und eine Winterkollektion pro Jahr. "Wir haben in Bayern fast nichts verkauft, zu 95 Prozent ging die Ware in den Ruhrpott, nach Hamburg oder an die Ostsee", erzählt sie.
Als Heinrich und Therese Michel 1985 ihren Betrieb abgaben, hatte keiner von Christine Schneiders Geschwistern Interesse daran. Deshalb zog sie mit ihrem Mann und den drei Kindern nach Rettersheim und übernahm die Geschäftsleitung. Kurz darauf traf sie zwei Entscheidungen, die die Zukunft des Unternehmens massiv beeinflussten.
Mehr Verkaufsfläche statt Produktion im Ausland
Vor rund 25 Jahren haben chinesische Hersteller begonnen, den Bekleidungsmarkt in Deutschland einzunehmen. Die Preise der Michel'schen Produktionen waren nicht mehr konkurrenzfähig. "Wir entschieden uns dagegen, die Produktion ins Ausland zu verlegen", so Christine Schneider. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das Ladengeschäft. Sie vergrößerte die Verkaufsfläche in Rettersheim und expandierte. Dazu nutzte sie kurz vor dem Mauerfall 1989 die zahlreichen familiären Kontakte ihres Mannes in die damalige DDR.

Ein Cousin fand in der Altstadt von Döbeln (Sachsen) ein Haus, das zum Verkauf stand. "Es war zwar heruntergekommen, lag aber günstig in einer Verbindungsstraße zwischen zwei Marktplätzen", so Schneider. Hätte sie damals geahnt, wie viele Rückschläge sie hinnehmen muss und wie viel die Renovierung in Summe kosten würde, hätte sie das Haus vermutlich nicht gekauft. Sie erzählt davon, dass es unmöglich war, in der DDR Baumaterialien zu kaufen, selbst Häkchen, um Vorhänge aufzuhängen, seien nicht aufzutreiben gewesen.
Hochwasser schweißte Döbeln und "Wessis" zusammen
Schneider erinnert sich an Unstimmigkeiten mit den Vorbesitzern und der Stadtverwaltung wegen des Denkmalschutzes. Tief in ihren Erinnerungen haften die zwei Hochwasser von 2002 und 2013, eines davon mit zwei Meter hohem Pegelstand, die die gesamte Döbelner Altstadt fluteten. "Seitdem waren wir bei den Nachbarn in der Straße nicht mehr nur 'die Wessis'", sagt sie. Man habe sich gegenseitig unterstützt, Unrat und Schlamm zu entsorgen. Die Bautrockengeräte, die sie aus der Heimat mitgebracht hatten, wurden gerne genutzt.
Mehrmals im Jahr reiste sie mit ihrem Mann, der eigentlich bei der Deutschen Post arbeitete, die 398 Kilometer zwischen Rettersheim und Döbeln hin und her; oft im Winter, wenn sich im Erzgebirge der Schnee meterhoch neben der Straße türmte. Denn dann fand in Leipzig die Modemesse statt. Das Ladengeschäft in Döbeln ist mittlerweile vermietet, in der Wohnung darüber lebt Schneiders Tochter, die der Liebe wegen nach Sachsen gezogen ist.
"Rückblickend war es Wahnsinn, was wir uns manchmal zugemutet haben", sagt sie. Und dennoch hätte sie nichts ändern wollen, sagt Christine Schneider. "Ich bin jemand, der nicht aufgibt, der anpackt, wo es nötig ist."