Ein kleines Reihenhäuschen in Kreuzwertheim, ganz in der Nähe des Mains: Klaus Günzelmann empfängt bereits an der Tür und führt seinen Besuch durch den Windfang, den Flur bis ins Wohnzimmer. In der Ecke: Eine HiFi-Anlage, ein CD-Ständer und Bluetooth-Kopfhörer. Schaut man aus dem Fenster, bleibt der Blick zwangsläufig an der imposanten Ruine der Burg Wertheim hängen. "Die Silhouette der Burg hab ich immer noch im Kopf", sagt Klaus Günzelmann.
Er hat in seinem Sessel Platz genommen, heute mal nicht mit Blickrichtung Burg, sondern Blickrichtung Besucher. "Ich bin mit einem Seh-Rest von fünf Prozent auf die Welt gekommen", erzählt er. Bereits im Säuglingsalter musste das linke Auge entfernt und durch ein Glasauge ersetzt werden, da sich ein bösartiger Netzhaut-Tumor entwickelte hatte. Mit dem rechten sah Klaus Günzelmann lange Zeit noch Landschaft, hat dadurch eine Vorstellung von Farben und Formen. Nach einer Augen-OP im Jahr 2014, der eine Lungenembolie folgte, verlor er seine Sehfähigkeit auch rechts komplett.
Seine Motivation und Lebensfreude verlor er hingegen nicht. Sein Zaubermittel ist die Musik und vor allem das Singen. "In meiner Familie wurde schon immer viel gesungen", erzählt er. Richtig los ging es bei ihm aber, als er mit 13 Jahren an die Blindenschule in München kam. "Hier gab es einen vierstimmigen gemischten Jugendchor", erzählt er. "Unser Chorleiter war komplett blind", erinnert er sich. Was gesungen wurde, musste auswendig gelernt werden. Das macht Klaus Günzelmann bis heute so. Seit über 40 Jahren singt er im Männergesangverein Kreuzwertheim, oft als Solist.
Der Donnerstagabend gehört insofern der Chorprobe. Gerade erst bereitet sich der Chor auf einen Gastbesuch in Billingshausen vor. Hier singen die Männer im Gottesdienst, den der ehemalige evangelische Pfarrer von Kreuzwertheim, Klaus Betschinske, hält. Geplant sind zwei Stücke. In beiden wird der Klaus Günzelmann Soli singen.
"Wenn wir ein neues Stück proben, lasse ich mir den Text normalerweise immer erstmal von jemand in der Chorprobe vorlesen", erzählt der 62-Jährige. Hat er ihn auswendig gelernt, ist er ein für alle mal abgespeichert, sozusagen wie ein imaginäres Notenblatt im Kopf. "Wenn ich unsicher bin, höre ich mir zuhause das Stück nochmal auf YouTube an", erklärt der Kreuzwertheimer.
Wie sich die Sinne verändern, wenn eine Wahrnehmung ausfällt, spürt Klaus Günzelmann täglich. "Man hört anders, wenn das Sehen ausgeschaltet ist", beschreibt er. Stimmen, Geräusche oder Gerüche: All das setzt sich in seinem Kopf zu einem Bild zusammen. Über 40 Jahre lang hat er bei der Agentur für Arbeit gearbeitet. Zunächst über 20 Jahre als Telefonist in Lohr, später dann im Servicecenter in Würzburg. Wenn sich ihm von seinen Kolleginnen und Kollegen jemand näherte oder an ihm vorbei ging, erkannte er diese mit der Zeit am Laufstil. Und auch auf dem Heimweg konnte er die eintreffende Buslinie an den Fahrzeuggeräuschen des jeweiligen Bus-Typs ausmachen.
Aber nicht alles lässt sich erhören. Um im Alltag gut klarzukommen, nutzt er auch technische Hilfsmittel, die immer besser werden. Vor allem das Handy übernimmt vieles: Über Touch, Tastatur und Spracheingabe kann er es steuern. Das Handy wiederum erkennt für ihn Geldscheine, eine spezielle App beschreibt ihm das, was sie im Fokus der Kamera sieht: Den blauen Himmel, die Anzahl an Gesichtern oder auch die Fernbedienung auf dem Wohnzimmertisch. "Landschaftsbeschreibungen versuche ich dann immer zu interpretieren, die bildliche Vorstellung habe ich ja noch", sagt Klaus Günzelmann.
Lieblings-Lied: "Wenn ich vergnügt bin, muss ich singen"
Seine Devise: Wenn ein Sinn wegfällt, muss man aus dem anderen mehr machen - dabei aber nicht verbissen werden. Wie sehr alle Sinne zusammenspielen, merkte er an dem Weihnachten, an dem er beschloss keinen Tannenbaum mehr aufzustellen, da er ihn nicht mehr sehen konnte. "Wie sehr mir dann aber auch der Geruch nach Tannengrün im weihnachtlichen Wohnzimmer fehlte, habe ich erst in dem Moment gemerkt, wo er nicht mehr da war", erzählt er.
Hat er mal ein Tief, hilft ihm die Musik. "Ich höre alles, außer Techno", erzähl er. Pop, Rock, gerne aber auch handgemachte Volksmusik mit Zither, Hackbrett, Flöte, Gitarre und Kontrabass. Manchmal singe ich auch einfach so für mich", erzählt er. Besonders gut gefällt ihm dabei das Scherz-Lied "Wenn ich vergnügt bin, muss ich singen" von Peter Igelhoff. In ihm geht es darum, sich über sein eigenes Glück zu freuen und es zu besingen - und alle anderen zu ermutigen, das Gleiche zu tun.