
Er selbst hatte schon nicht mehr damit gerechnet. Über Jahrzehnte konnte Heinrich Oberleiter seine Heimat nicht besuchen. Konnte nicht nach Südtirol, ohne Angst vor Inhaftierung haben zu müssen. Jetzt aber ist dem 81-Jährigen aus Gössenheim im Landkreis Main-Spessart tatsächlich doch noch möglich: Der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella hat den Südtiroler Heinrich Oberleiter begnadigt.
Oberleiter war in den 1960er Jahren an Bombenanschlägen in Südtirol beteiligt gewesen. Er kämpfte im Untergrund gegen die Italiener, die für ihn Besatzungsmacht waren. Als einer von vier Pusterer Buben hatte er Strommasten gesprengt - und war dafür 1967 in Italien zu zweimal lebenslänglich verurteilt worden. "Ein Schauprozess", sagt Oberleiter. Auch ein Mord an einem Carabiniere war den Pusterer Buben vorgeworfen worden. Durch neue Zeugenaussagen wurden Oberleiter und seine Mitstreiter inzwischen entlastet.
Bereits 2018 hatte Oberleiters Familie ein Gnadengesuch an den italienischen Staatspräsidenten geschickt. Die Begnadigung jetzt begründete Mattarella damit, dass bei den Anschlägen niemand gestorben sei. Auch die Staatsanwaltschaft in Brescia hatte für den Gnadenakt ausgesprochen. Er soll eine neue Ära im Konflikt um Südtirol einleiten und ein Zeichen der Versöhnung sein.
Auch der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen hatte sich für die Begnadigung Oberleiters eingesetzt und sieht darin eine "schöne Geste der Versöhnung, die alte Wunden heilen kann". Für den Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher ist es ein Schritt, "mit dem erlittenes Leid überwunden werden kann, ohne zu vergessen, was passiert ist". Mit Oberleiter wurden Ende vergangenen Jahres sechs weitere Personen von Italiens Staatspräsident begnadigt - allerdings in anderer Sache.
Das offizielle Schreiben vom italienischen Staatspräsidenten erhalten
Im Dezember hatte Oberleiter der Anruf eines Freundes aus Südtirol erreicht: "Du bist begnadigt, es wird im Radio gesendet." Einige Tage später habe er dann auch einen offiziellen Brief vom italienischen Staatspräsidenten erhalten, sagt der 81-Jährige aus Gössenheim. "Das freut mich natürlich sehr." Sobald der Winter vorbei ist "und wenn sich die Corona-Lage beruhigt hat" will er nun ganz legal in seine alte Heimat reisen und das Ahrntal besuchen. Inkognito war er - dank der offenen Grenzen in der EU - schon mehrmals dort. Immer verbunden mit Risiko: "Ich musste sehr vorsichtig sein."
In St. Johann im Ahrntal war Heinrich Oberleiter aufgewachsen, als viertes von 13 Kindern. Ein Bild aus dem Jahr 1978, das in seinem Wohnzimmer in Gössenheim hängt, zeigt ihn mit allen Brüdern und Schwestern in der Bauernstube seiner Eltern. Da wurde er schon mit Haftbefehl gesucht. Ein solches Familientreffen habe immer erst am letzten Tag vor seiner Rückfahrt nach Deutschland stattgefunden, berichtet der 81-Jährige. Die Gefahr, dass Carabinieri auf ihn aufmerksam geworden wären, sei vorher immer zu groß gewesen. Auch bei der Beerdigung seiner Eltern habe er deshalb nicht dabei sein können.

Was ihn zum Rebellen machte? Ein Schlüsselerlebnis sei für ihn der "Pfunderer Prozess" 1957/58 gewesen, sagt Oberleiter. Ein italienischer Grenzbeamter war nach einer durchzechten Nacht tot in einem Bachbett gefunden worden. Es gilt als wahrscheinlich, dass er betrunken gestürzt war. Doch acht Pfunderer Buben wurden zu insgesamt 116 Jahren Gefängnis verurteilt. "Reine Willkür", sagt der Gössenheimer.
Im Juni 1961 kam es zur sogenannten Feuernacht - mit 37 gesprengten Hochspannungsmasten. Die Energieversorgung der Bozener Industriezone, Symbol für die Italianisierung in der Zeit des Faschismus, sollte lahmgelegt werden. Der italienische Staat reagierte mit Macht. Zahlreiche Verdächtige wurden verhaftet und – wie man heute weiß – auch gefoltert.

Der Knecht Heinrich Oberleiter und drei andere Burschen waren als "Pusterer Buben" bekannt. Sie bauten Felsverstecke, verübten Anschläge, waren schließlich die am meisten gesuchten Aktivisten. Den Sprengstoff hatten sie von Sympathisanten aus Nordtirol erhalten. Oberleiter wurde festgenommen, konnte aber wie durch ein Wunder fliehen.
Mit seinem Motorrad war er im Dezember 1963 in eine Straßensperre gefahren. So saß er verhaftet im Jeep zwischen den bewaffneten Grenzbeamten - und betete für eine Chance zur Flucht. Als der Wagen auf eisglatter Fahrbahn in einen Graben geschleudert wurde, habe er sich von seinen Bewacher losgerissen und sich den Abhang hinuntergestürzt, erzählt Oberleiter. Mehrere Gewehrsalven habe er noch gehört. "Aber sie konnten mir nicht folgen."
Er rettete sich nach Österreich und schloss sich dort dem Widerstand in Nordtirol an. "Ich war nicht mehr überzeugt, dass mit Gewalt viel erreicht werden konnte", sagt der 81-Jährige im Rückblick.
Angst, von Österreich nach Italien ausgeliefert zu werden
Als Italien 1967 die Auslieferung von Österreich forderte, entschloss sich Oberleiter zur weiteren Flucht, nach Deutschland. Damit sei das Leben als Rebell endgültig vorbei gewesen. Über eine Zeitungsannonce wurden Oberleiter und seine Frau, die er am Tegernsee kennengelernt hatte, Anfang der 1980er Jahre schließlich auf die SOS-Dorfgemeinschaft Hohenroth aufmerksam. Hauseltern wurden gesucht, der Südtiroler bewarb sich mit seiner siebenköpfigen Familie - und kam nach Gemünden.
Seit 1984 hat der Südtiroler die deutsche Staatsbürgerschaft. Sein soziales Engagement für die Dorfgemeinschaft, vermutet der Gössenheimer, habe wohl jetzt zu seiner Begnadigung beigetragen. Bereut habe er seinen Widerstand nie. Wer ihn dafür verurteile, verstehe nicht, wie die deutschsprachige Bevölkerung in Südtirol damals unter den Italienern gelitten habe. Täglich sei den Deutschen ihre Machtlosigkeit vor Augen geführt worden, sagt Oberleiter und berichtet von permanenten Schikanen: "Es war nicht besser als unter Mussolini."
Widerstand damals die einzige Möglichkeit
Zu seinen damaligen Kameraden, den anderen Pusterer Buben, hat Oberleiter keinen Kontakt. Einer sei bereits gestorben, die beiden anderen hätten kein Gnadengesuch gestellt. Er selbst sei mit sich im Reinen. Für ihn sei Widerstand damals die einzige Möglichkeit gewesen, etwas für seine Heimat Südtirol zu erreichen. Heute würde er anders handeln - und auf Diplomatie setzen. Aber mit den Aktionen sei gelungen, die Weltöffentlichkeit auf das Südtirol-Problem aufmerksam zu machen. Insofern, sagt Oberleiter, habe der Widerstand einen Sinn gehabt.
Buchtipp: Der Südtiroler Schützenbund hat 2011 die Autobiografie von Heinrich Oberleiter herausgebracht: "Es gibt immer einen Weg – Heinrich Oberleiter, einer der Puschtra Buibm", 180 Seiten, 25 Euro, ISBN 13: 9788897053132
Die Geschichte Herrn Oberleiters erinnert mich an das Buch "Ich bleibe hier" von Marco Balzano (https://www.amazon.de/Ich-bleibe-hier-Marco-Balzano/dp/3257071213/), in dem das Schicksal der Südtiroler beim Bau des Reschensees vor, während und nach dem 2. Weltkrieg beschrieben wurde. Das Buch machte bei Erscheinen in Italien Furore.
Der Artikel bringt mir auch die Geschichten in Erinnerung, die mir Anfang der 80er Jahre eine Freundin aus Südtirol über die Unterdrückung der deutschsprachigen Südtiroler und deren Widerstand erzählte.
https://www.welt.de/geschichte/article231759543/Suedtirol-1961-Was-Terroristen-gegen-Strommasten-hatten.html
Gemeinhin bezeichnet man das als Terrorismus und die Täter als Terroristen. So tut es die Welt in ihrem Artikel und ich schließe mich dem an.
Und ich kenne Südtirol durchaus persönlich. Da lebt man friedlich zusammen und hört nicht auf Hetzer aus dem Ausland.