
Es ist ruhig geworden um Heinrich Oberleiter. Er wohnt mit seinem Sohn und dessen fünfköpfiger Familie unter einem Dach in Gössenheim im Landkreis Main-Spessart. Dort kümmert sich der 77-Jährige in rührender Weise um seine demente Frau Elfriede. Nichts erinnert an seine rebellische Jugend, allenfalls ein Buch, das auf dem Tisch liegt. „Es gibt immer einen Weg“ ist der Titel, darin schildert er seine Zeit als Untergrundkämpfer in Südtirol gegen die Italiener. Als einer von vier Pusterer Buben sprengte er Strommasten. „Für uns war Italien eine Besatzungsmacht“, sagt er mit noch leicht Südtiroler Akzent. Bereut hat er seinen Widerstand nie. „Es musste sein.“

Wer ihn dafür verurteilt, könne nicht verstehen, wie die deutschsprachige Bevölkerung in Südtirol damals unter den Italienern gelitten habe. Die Autonomie gab es noch nicht. Täglich sei den Deutschen ihre Machtlosigkeit vor Augen geführt worden. „Es war nicht besser als unter Mussolini“, sagt Oberleiter. Die Verwaltungssprache war plötzlich italienisch, Ortsnamen wurden umbenannt und man brauchte einen Dolmetscher, um Anträge zu stellen. Es habe keine Stellen in der Verwaltung für deutsche Südtiroler gegeben, die Sozialwohnungen seien zu 95 Prozent an Italiener vergeben worden. Der 77-Jährige berichtet von täglichen Schikanen. Auf die italienische Polizei habe man da nicht zu hoffen brauchen. Die habe immer Partei für ihre Landsleute ergriffen.
In Abwesenheit wurde Oberleiter 1967 in Italien zu zweimal lebenslänglich verurteilt. „Ein Schauprozess“, sagt er. Den Pusterer Buben wurde ein Mord an einem Carabinieri vorgeworfen. Heute wisse man, dass sie mit dem Mord nichts zu tun hatten.
Begnadigt wurde er bislang nicht, obwohl der Südtiroler Landtag um die Begnadigung der Freiheitskämpfer der 60er Jahre beim italienischen Staatspräsidenten und Justizminister in Rom gebeten hat. Auch ein Antrag, Oberleiter die Ehrenbürgerschaft in der Gemeinde Ahrntal zu verleihen, scheiterte knapp. Eine abschließende Bewertung steht noch aus. Doch in Südtirol sei die Meinung weit verbreitet, dass es letztlich der Widerstand war, der zu einer Wende in der italienischen Südtirol-Politik und zu mehr Autonomie geführt hat. Oberleiter ist in dieser Frage mit sich im Reinen, zumal er zu der Generation der Aktivisten gehörte, die Gewalt gegen Sachen bejahten, aber Menschenleben um jeden Preis schonen wollten.
Aufgewachsen ist er im Ahrntal in Südtirol, als viertes von 13 Kindern. Schon früh musste er als Knecht auswärts dienen, da die Eltern nicht das Geld hatten, für die ganze Familie zu sorgen. Was ihn zum Rebellen machte? Ein Schlüsselerlebnis war für Oberleiter der „Pfunderer Prozess“ aus dem Jahr 1957/58. Ein italienischer Grenzbeamter war nach einer durchzechten Nacht tot in einem Bachbett gefunden worden. Die Hintergründe ließen sich nicht klären. Es gilt als wahrscheinlich, dass er betrunken den Abgrund hinunter gestürzt war. Doch wurden acht Pfunderer Männer zu insgesamt 116 Jahren Gefängnis verurteilt. „Das war reine Willkür, denn Beweise hat es keine gegeben“, sagt Oberleiter.
Die Diskriminierung der Südtiroler im öffentlichen Dienst, die gezielte Unterwanderung, die Heerscharen von Soldaten und Carabinieri hätten ihn und andere überzeugt, sich dem Freiheitskampf anzuschließen. Sein Ziel: die Selbstbestimmung Südtirols, nicht die Autonomie im Staat Italien und auch nicht der Anschluss an Österreich.
Zunächst habe er im Geheimen agiert, ohne seine Arbeit als Knecht bei einem Bauern aufzugeben. Im Juni 1961 kam es zur sogenannten Feuernacht. 37 Hochspannungsmasten wurden gesprengt. Damit sollte die Energieversorgung der Bozener Industriezone, einem Symbol für die Italianisierung während des Faschismus, lahmgelegt werden. Dieses Ziel wurde verfehlt, internationale Aufmerksamkeit erhielt die Aktion trotzdem. Doch der italienische Staat reagierte mit aller Macht. Zahlreiche Verdächtige wurden verhaftet und – wie man heute weiß – auch gefoltert. Oberleiter war nicht dabei. Er galt den italienischen Grenzbeamten noch als unverdächtig. Das sollte sich ändern.

Ihn und drei andere Burschen nannte man die „Pusterer Buben“. Sie bauten Felsverstecke, verübten Anschläge, galten schließlich als die meistgesuchtesten Aktivisten. Den Sprengstoff erhielten sie von Sympathisanten aus Nordtirol. In seinem Buch schildert Oberleiter die Sprengungen von Strommasten, auch die Misserfolge. Oft funktionierte der selbst gebaute Zünder nicht. Dann war es ein tödliches Risiko, sich dem Sprengsatz wieder zu nähern.
Oberleiter wurde festgenommen, konnte aber wie durch ein Wunder fliehen. Mit seinem Motorrad war er im Dezember 1963 in eine Straßensperre gefahren und wurde gestellt. Er saß im Jeep zwischen den bewaffneten Grenzbeamten, als der Wagen in den Graben geschleudert wurde. Als die Besatzung mit dem Rausziehen beschäftigt war, riss sich Oberleiter von seinem Bewacher los, stürzte sich den Abhang hinunter und durchquerte bei minus 17 Grad einen Bach. Er habe noch mehrere Gewehrsalven gehört, erzählt Oberleiter. „Aber sie konnten mir nicht folgen.“
So gelang ihm die Flucht nach Österreich. Auch da schloss er sich dem Widerstand in Nordtirol an und setzte von dort – stark eingeschränkt – seine Aktionen fort. „Ich war nicht mehr überzeugt, dass mit Gewalt viel erreicht werden konnte.“
1967 forderte Italien die Auslieferung. Da es sich abzeichnete, dass Österreich darauf eingehen werde, entschloss sich Oberleiter zur weiteren Flucht, diesmal nach Deutschland. Damit war das Leben als Rebell endgültig vorbei. Oberleiter lernte am Wallberg bei Tegernsee seine heutige Frau kennen. Über eine Zeitungsannonce wurde er Anfang der 80er Jahre auf die SOS-Dorfgemeinschaft Hohenroth aufmerksam. Hauseltern wurden gesucht, er bewarb sich mit seiner siebenköpfigen Familie. So kam der Südtiroler nach Gemünden.
„Ich stehe dazu, was ich damals getan habe“, sagt Oberleiter heute. „Unter den damaligen Umständen war für mich und meine Kameraden der Einsatz von Gewalt gegen Sachen die einzige Möglichkeit, etwas für Südtirol zu erreichen.“ Heute würde er anders handeln, auf Diplomatie setzen. Die Forderung nach Selbstbestimmung für Südtirol sei damals unerreichbar gewesen, aber es sei gelungen, die Weltöffentlichkeit auf das Südtirolproblem aufmerksam zu machen. Insofern habe der Widerstand einen Sinn gehabt.

Mehrmals war er – dank der offenen Grenzen in der EU – wieder in seiner alten Heimat, aber inkognito. Denn noch immer liegt ein Haftbefehl gegen den 77-Jährigen vor. Allerdings sei er bei seinen Aufenthalten immer auf der Hut gewesen. Bei der Beerdigung seiner Eltern konnte er nicht dabei sein. Zu groß sei das Risiko gewesen, festgenommen zu werden. Gerne würde Oberleiter wieder ganz legal in seine alte Heimat reisen. Die Hoffnung hat er nicht aufgegeben, aber sie ist gering. „Ich glaube, die warten, bis wir alle gestorben sind. Dann hat sich das Problem erledigt.“
Buchtipp: „Es gibt immer einen Weg – Heinrich Oberleiter, einer der Puschtra Buibm“, Autobiografie 2011, Herausgegeben vom Südtiroler Schützenbund, 25 €, schuetzen.com
Die Geschichte Südtirols
Im November 1918, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde Südtirol zu Italien geschlagen und dessen nördlichste Provinz. Die Mehrheit der Bevölkerung damals war deutschsprachig. Mit der Machtergreifung des Duce Benito Mussolini 1922 begann für die Südtiroler die Italianisierungsphase mit Verbot der deutschen Sprache.
1928 wurde in Bozen ein großes Industriegebiet zur Ansiedlung von Italienern angelegt. Die Einwohnerzahl Bozens wuchs durch Zuwanderer von 30 000 auf zwischenzeitlich bis zu 120 000 Einwohner.
1938 wurde der Anschluss Österreichs an das von Adolf Hitler geführte Deutsche Reich von vielen Südtirolern mit Begeisterung aufgenommen – in der Hoffnung, das Land werde bald selbst „heim ins Reich“ geholt. Hitler erklärte jedoch die Brenner-Grenze als unantastbar.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hofften viele Südtiroler erneut auf Wiedervereinigung mit Nordtirol im Zuge einer absehbaren staatlichen Neugründung Österreichs. Italien, das bereits die Halbinsel Istrien und die Städte Fiume und Zara an Jugoslawien hatte abtreten müssen, wurde bei den Verhandlungen das Gebiet Südtirols erneut zugesprochen. Der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerungsmehrheit in der Region wurden vonseiten Italiens allerdings autonome Grundrechte zugesichert.
Die Umsetzung der Autonomie wurde von der italienischen Zentralregierung verzögert, was zu steigendem Unmut der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler führte. Besonders umstritten war die von der italienischen Regierung geförderte Zuwanderung von italienischen Arbeitsmigranten. 1957 erreichte sie ihren Höhepunkt, als für die Migranten 5000 Wohnungen in Südtirol errichtet werden sollten.
Ab 1956 kam es zu einer Serie von Bombenattentaten, wobei die Aktivisten nicht für die Umsetzung der Autonomie, sondern für die Loslösung Südtirols von Italien eintraten. Während die Anschläge in den ersten Jahren weitgehend auf die Zerstörung von Sacheigentum abzielten (Strommasten, italienische Wohnbauten), richtete sich die Gewalt später auch gegen Menschen. 361 Anschläge mit 21 Toten wurden insgesamt bis 1988 gezählt.
1972 trat der „Zweite Autonomiestatut“ für Südtirol als Verfassungsgesetz in Kraft. Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte wurde es schrittweise umgesetzt.