
Im Juli 2019 fand in Neuhütten eine Veranstaltung statt, über die nicht nur in der regionalen Presse, sondern auch in den USA berichtet wurde. Es handelte sich um ein Treffen, das fast 100 Angehörige der Familie Bischoff zusammenführte. Auch aus Amerika waren Teilnehmer angereist.
Aber was hat das westlich von Lohr gelegene Spessartdorf mit den USA zu tun? Nun, in den Erzählungen älterer Leute war früher manchmal von Verwandten auf der anderen Seite des Atlantiks die Rede. In der Inflationszeit nach dem 1. Weltkrieg hatten sie Dollargeschenke und 1926 Spenden für den Bau der neuen Kirche geschickt und nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Päckchen mit Lebensmitteln oder Kleidung. Hintergrund waren die großen Auswanderungsbewegungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vereinzelt nach der Revolution von 1848/49 und intensiver nach "Gründerzeit" und "Gründerkrach" der 1870er Jahre.

Bis 1926 "gingen" etwa 26 Millionen Europäer nach Amerika. Die Spitzen lagen zwischen 1846-1860, 1865-1875 und 1890-1904. Die meisten waren Deutsche. Im Hamburger Hafen machten sie 44 Prozent aus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde New York – nach Berlin und Wien – zur drittgrößten deutschsprachigen Großstadt. Ein Stadtviertel in Manhattans Lower East Side hieß "Little Germany".
Bereits mehr als ein Jahrhundert vorher waren zwischen 1733 und 1803 14 namentlich bekannte Neuhüttener nach Ungarn ausgewandert, die von mindestens zehn Familienangehörigen begleitet wurden. Damals ging es um die Wiederbesiedlung der habsburgischen Gebiete in Ungarn nach der Beseitigung der 1526 begonnenen türkischen Herrschaft und im Spessart herrschte nach der Aufhebung der privaten Glashütten Arbeitsplatzmangel, so dass die Auswanderung als lohnende Option erschien. In einzelnen Orten nördlich des Plattensees wird heute noch die Sprache der Spessarter Zuwanderer gesprochen. Auch alte Lieder sind dort noch bekannt.
Der Neuhüttener Forscher und Chronist Linus Kunkel, dessen lesenswertes 413-seitiges Buch "Das Spessartdorf Neuhütten und seine Auswanderer" im letzten Jahr erschienen ist, hat die Dörfer im Bakony-Wald mehrfach besucht, alte Grabsteine fotografiert und sich darüber gewundert, wie gut die mitgebrachte Sprache des 18. Jahrhunderts dort noch bekannt ist.
Im Zentrum der Dokumentation Kunkels steht jedoch die Auswanderung in die USA, die manche ehemaligen Dorfbewohner schließlich bis nach Brasilien oder Indonesien führte. Die Namen spiegeln die Geschichte der ehemaligen großen Glashüttensiedlung seit dem 15./16. Jahrhundert wider. Sie lassen sich in dem Dorf auch heute noch in ähnlicher Zusammensetzung finden:
62 Mitglieder der Familie Kunkel, gefolgt von 25 mit dem Namen Roth, 21 mit dem Namen Karl, 18 Englert, 16 Bachmann, 13 Wirzberger, 11 Grimm, 5 Stenger, 5 Merz, 4 Fleckenstein, 4 Huth, 3 Eich, 3 Bollmann und andere, die nur einmal genannt sind. Darunter der Name Bischoff. Allein die Mitglieder dieser Familie brachten es bei ihrem Treffen, wie erwähnt, auf fast 100 Angehörige. Man stelle sich vor, die Nachkommen der nach Amerika ausgewanderten 62 Kunkel würden Ähnliches beschließen!
Industrialisierung führte zur Auswanderung
Im Hintergrund der Auswanderungswelle des 19. Jahrhunderts stehen die beschleunigte Industrialisierung seit den 1840er Jahren und der Eisenbahnbau. Sie führten in verkehrsmäßig schlecht erschlossenen Waldregionen zur Abwanderung der dort eigentlich marktfernen Produktion, die ursprünglich wegen der günstigen Energiesituation (Brennholz, Holzkohle, Wasserkraft) angesiedelt worden war. An Rhein und Ruhr gab es davon jetzt unter Nutzung der mit den Dampfmaschinen verbundenen technischen Möglichkeiten zur Kohleförderung und Stahlerzeugung mehr als genug.
Die schlecht angebundene Glaserzeugung der Zweig- und Nachfolgebetriebe der Lohrer Spiegelmanufaktur kam zum Erliegen, die Eisenproduktion der Hammerbetriebe wanderte an die Ränder des Waldgebiets, nach Lohr, Laufach und Aschaffenburg. Der Wirtschaftswissenschaftler Hellmuth Wolff schreibt 1905: "Der innere Spessart hatte damals (1815) viel mehr industrielle Tätigkeit als die Stadt Aschaffenburg und das Maintal bis Gemünden hinauf zusammen, wie die Geschichte der Glas- und Eisenindustrie zeigt. Mit dem Umschwung der Produktionsprozesse in der Technik und des Verkehrswesens ist das allmählich anders geworden."
Es fehlte somit erneut an Arbeitsplätzen. Die Zahl der Kinder nahm dennoch stark zu und die Landwirtschaft brachte auf den kargen, durch die Realteilung aufgesplitterten Böden keinen Ausgleich. Im fränkischen Weinland hieß es bis ins 20. Jahrhundert, mit 1,5 Hektar könne man eine Familie ernähren. Im Spessart – noch ohne Kunstdünger - konnte sie davon verhungern.
Virchow schrieb über die Not
Der Arzt und Professor Rudolf Virchow bereiste 1852 im Auftrag der bayerischen Regierung das Notstandsgebiet. "Es ist nicht die glücklichste Zone der Erdoberfläche, in welcher der Spessart liegt", schreibt er und spricht vom "Nothschrei", der hier und in vergleichbaren Gebieten zu hören ist, und von der Gefahr des Hungertyphus.
Die Häuser waren klein, oft fehlte der Schornstein und die Gebäude waren manchmal mit mehreren Generationen weit überbelegt. In den Betten schliefen meist zwei bis drei Personen. Virchow konstatierte "eine außerordentlich dichte Bevölkerung mit einem verhältnismäßig zu geringen Grundbesitz". Außerdem glaubte er, eine "äußerste geschlechtliche Immoralität" feststellen zu müssen, die sich im Verhältnis der ehelichen Kinder zu den vielen unehelichen zeige. Dass diese Erklärung falsch war, beweist nach der Aufhebung der Ehebeschränkungen 1868 die Legitimation der allermeisten Kinder als "ehelich". Die Eltern hatten wegen Fehlens eines eigenen "Herdfeuers" nur nicht heiraten dürfen. Gut 20 Jahre nach der Reform lag der Prozentsatz der unehelichen Kinder im Spessart mit etwa fünf Prozent deutlich unter dem bayerischen Durchschnitt von fast 14 Prozent.
Was aber blieb, war die im Verhältnis zur landwirtschaftlichen Fläche viel zu hohe Kinderzahl. Haupt-Nahrungsquelle waren die Kartoffeln und deren Krankheiten führten, wenn dazu noch die Getreideernte gering war, zu fürchterlichen Hungersnöten. Die ärztliche Versorgung war miserabel, auch wenn die Sterblichkeit in Heigenbrücken, Neuhütten und Jakobsthal deutlich unter der von Partenstein, Neuendorf und Lohr lag. Die Spessarter galten als "zäh".
Virchow stellte eine ganze Reihe ansteckender Krankheiten fest, insbesondere Typhus und Lungenkrankheiten, und "Myriaden von Flöhen" als Ergebnis katastrophaler hygienischer Verhältnisse. So war es kein Wunder, dass im Jahrhundert nach der Auswanderung nach Ungarn viele ihr Glück auf dem riesigen Kontinent jenseits des Atlantiks suchten. Seit Goethe hatte sich die verheißungsvolle Parole "Amerika, Du hast es besser!" eingebürgert. Wer am Fuße der Freiheitsstatue an Land ging, schien dem Elend entkommen zu sein.

Aber auch damals schon gab es eine Art Schlepperunwesen. Auswanderungsagenten, Schifffahrtslinien und Einwanderungsprofiteure fanden Wege, die zur Emigration gezwungenen, armen Leute mit ihren Kindern um das mühsam zusammengesparte und nicht zuletzt aus dem Verkauf der letzten Habseligkeiten erlöste Geld zu bringen. Im "Gelobten Land" ging das zunächst weiter: Viele Neuankömmlinge hatten zur Bezahlung der unter äußerst beengten, unhygienischen Verhältnissen absolvierten Schiffspassage Knebelverträge abgeschlossen. Nun waren sie zunächst Arbeitssklaven, die über Jahre ihre Schulden abstottern mussten.
Neuhüttener eroberten New York
Manche hielten es vor Heimweh "drüben" nicht aus und mussten arm und mittellos zurückkehren. Manche starben sogar an Heimweh. Die meisten aber schafften es, durch Arbeitswillen, Sparsamkeit, mitgebrachtes handwerkliches Können und Zähigkeit Fuß zu fassen. Unterstützt wurden sie dabei häufig durch schon vor ihnen Ausgewanderte, die ihnen als Landsleuten oder Verwandten Hilfe boten. In New York, aber auch weiter im Land, bildeten sich so Inseln von Neuhüttenern, die sich von dort aus weiter das riesige, vom Zug nach dem "wilden" Westen geprägte Land als neue Heimat eroberten.

Hatten sie es geschafft, zeigten sie dies den daheimgebliebenen Verwandten und Freunden auf Fotos mit Stolz. Die Kleidung, auch der Kinder, zeigt meist eine ausgeprägte Bürgerlichkeit und wenn es gelungen war, ein Automobil zu erwerben, musste das natürlich auch mit aufs Bild.

Linus Kunkel ist mittlerweile zu einer wichtigen Relaisstation zwischen Neuhütten und vielen amerikanischen, brennend an ihrer Familiengeschichte interessierten Nachkommen der Auswanderer geworden. Seine Heimatgemeinde, sieht sich durch seine Forschungen fast unversehens in weltweite, über die USA hinaus bis nach Brasilien und Sumatra reichende Zusammenhänge gerückt.
Literatur: KUNKEL, Linus: Das Spessartdorf Neuhütten und seine Auswanderer, Gemeinde Neuhütten 2020. SPIES, Hans-Bernd : Auswanderungen aus Habichsthal, Heigenbrücken, Heinrichsthal, Jakobsthal, Krommenthal, Neuhütten, Rothenbuch, Weibersbrunn und Wiesthal ins Königreich Ungarn sowie dessen Nachbarländer im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Geschichtsblatt Heigenbrücken 11/2009, S. 18-28.
Zum Autor: Stefan Krimm leitete von 1989 bis 2011 unter anderem das Fachreferat für Deutsch und Geschichte im Bayerischen Kultusministerium. Er war als Historiker Mitglied der DFG-Forschungsgruppe "Spessartglas" und hat unter anderem das Buch "Die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Glashütten im Spessart" verfasst.
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter https://www.mainpost.de/dossier/geschichte-der-region-main-spessart/