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Miltenberg
72 Stunden im Katastrophengebiet: Was Helfer aus Unterfranken erlebten
"Das sprengt sämtliche Dimensionen", sagt der Leiter des Unterfranken-Kontingents für Katastrophenschutz nach seinem Einsatz in den überfluteten Gebieten in Rheinland-Pfalz.
In Bad Neuenahr-Ahrweiler machen sich zwei holländische Feuerwehreinsatzkräfte mit BRK-Kräften und einem Notarzt auf den Weg, um in Häusern nach Vermissten, Hilflosen und Eingeschlossenen zu suchen.
Foto: BRK Unterfranken | In Bad Neuenahr-Ahrweiler machen sich zwei holländische Feuerwehreinsatzkräfte mit BRK-Kräften und einem Notarzt auf den Weg, um in Häusern nach Vermissten, Hilflosen und Eingeschlossenen zu suchen.
Angelika Kleinhenz
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:20 Uhr

Eigentlich kann Alois Klemm nichts so schnell aus der Fassung bringen. Doch die Eindrücke aus dem von der Flutkatastrophe besonders betroffenen Landkreis Ahrweiler im Norden von Rheinland-Pfalz haben selbst den langjährigen Katastrophenschützer erschüttert. Seit 2005 ist Alois Klemm Leiter des Standardkontingents für Katastrophenschutz in Unterfranken. Das Kontingent besteht aus Ehrenamtlichen verschiedener Hilfsorganisationen: Bayerisches Rotes Kreuz (BRK), Malteser, Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) und Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH). Vergangenen Dienstag ist der 65-jährige Miltenberger nach 72 Stunden Einsatz im rheinland-pfälzischen Katastrophengebiet mit allen 141 Freiwilligen und 40 Fahrzeugen gesund nach Unterfranken zurückgekehrt. Im Interview spricht er über die Lage im Landkreis Ahrweiler.

Frage: Wie geht es Ihnen?

Alois Klemm: Nach einer ersten halbwegs durchschlafenen Nacht wieder ganz gut. Danke.

Haben Sie einen vergleichbaren Einsatz schon einmal erlebt?

Klemm: So einen Einsatz hat noch kein Einsatzleiter und kein Helfer in dieser Form je in Deutschland erlebt. Das sprengt sämtliche Dimensionen. Dieses Ausmaß kennen wir aus fernen Ländern, etwa von Bildern aus Thailand nach dem Tsunami 2004.

Alois Klemm leitete den Einsatz des Unterfranken-Kontingents für Katastrophenschutz in Rheinland-Pfalz.
Foto: BRK Unterfranken | Alois Klemm leitete den Einsatz des Unterfranken-Kontingents für Katastrophenschutz in Rheinland-Pfalz.
72 Stunden dauerte Ihr Einsatz. Wie schnell konnten Sie die Einsatzkräfte mobilisieren?

Klemm: Am Samstag um acht Uhr wurden wir alarmiert. Um zehn Uhr sollten die 141 Einsatzkräfte im Sammelraum in Hösbach (Lkr. Aschaffenburg) einsatzbereit sein. Das war utopisch. Die Ehrenamtlichen kommen aus ganz Unterfranken. Auch aus Bad Neustadt, Bad Kissingen und den Haßbergen. Von Hösbach aus haben wir es geschafft, das Kontingent gegen 14 Uhr in Richtung Nürburgring nach Rheinland-Pfalz zu verlegen und sind dort gegen 18 Uhr angekommen. 

Was erwartete Sie am Nürburgring?

Klemm: Die Lage war unübersichtlich. Zwischen 1000 und 1500 Kräfte aus ganz Deutschland waren da. Ein Wahnsinnsaufgebot an Einheiten: Bundeswehr, Polizei, THW, Feuerwehren, Bundespolizei, Spezialeinheiten, Hubschrauber, Luftrettung. Es gab eine Lagebesprechung mit den Verantwortlichen des Landes Rheinland-Pfalz und mit unserem Vorauskommando aus Bayern.

Haben Sie im Katastrophengebiet übernachtet?

Klemm: Wir hatten Glück. Dank der Unterstützung der örtlichen Kollegen des Roten Kreuzes konnten wir in der Blindenschule des Landes Rheinland-Pfalz in Neuwied übernachten. Sie liegt auf der anderen Seite des Rheintals, außerhalb des Schadensgebietes. Das war wichtig. Denn wenn man direkt im Einsatzgebiet übernachtet, dann fliegen die Hubschrauber drüber, dann fährt ein Bergepanzer durchs Gelände, dann rückt die Feuerwehr aus. Da kann niemand schlafen. 

Einsatzkräfte der Bundeswehr bauen eine Behelfsbrücke über die Ahr im Weinort Rech im Landkreis Ahrweiler in Rheinland-Pfalz. 
Foto: Ira Schaible, dpa | Einsatzkräfte der Bundeswehr bauen eine Behelfsbrücke über die Ahr im Weinort Rech im Landkreis Ahrweiler in Rheinland-Pfalz. 
Wie haben Ihre Einsatzkräfte am nächsten Tag den von der Flutkatastrophe betroffenen Menschen helfen können?

Klemm: In Ahrweiler haben wir von neun Uhr morgens bis Sonnenuntergang über 5800 Portionen warme Speisen ausgegeben, die wir vor Ort gekocht hatten. Wir haben über 200 Lunchpakete verteilt, mehr als 500 Liter Kaffee gekocht und über 6000 Getränkeflaschen ausgegeben, die wir mit einem LKW ins Katastrophengebiet geschafft haben. Wir haben kleinere Schnitt-, Schürf- und Platzwunden versorgt. 

Hatten Sie noch andere Aufgaben?

Klemm: Viele von uns waren Sonntag und Montag von sieben Uhr morgens bis weit nach Mitternacht im Einsatz. Die Kontingentführung, das sind etwa zehn Kollegen und ich, sowie die für die Verpflegung zuständigen Kräfte waren fast rund um die Uhr beschäftigt. Unsere Einsatzkräfte haben sich um die Angehörigen eines Verschütteten gekümmert, der unter den Trümmern tot geborgen wurde. Sie haben Menschen getröstet. Sie haben mit Schippe und Besen Plätze freigeräumt. Und sie haben Notfallseelsorger, die mit ihrem Privatauto angereist sind, in die Katastrophengebiete gefahren. 

Was war Ihre Aufgabe als Kontingentführer?

Klemm: Ich hatte die Verantwortung für das Kontingent und unsere Einsätze. Ich selbst war deshalb nicht im Katastrophengebiet, sondern in unserem Basislager in Neuwied. Von dort haben wir alles gesteuert. Ich erhielt die Lagemeldungen der Gruppenführer unserer Teileinheiten und hielt den Kontakt zu den übergeordneten Einsatzleitern. Ich musste mir ein Gesamtbild der Lage verschaffen.

"Es wird Jahre dauern, bis die Schäden optisch beseitigt sind. In den Köpfen der Betroffenen und unserer Einsatzkräfte werden sie eingebrannt sein."
Alois Klemm über die Verwüstungen in den überfluteten Gebieten in Rheinland-Pfalz
Wie war Ihr Gesamteindruck von der Lage in Ahrweiler?

Klemm: Mehr als bedrückend. Ich denke, die Betroffenen haben überhaupt noch nicht realisiert, was passiert ist und wie es weitergeht. Es wird Jahre dauern, bis die Schäden optisch beseitigt sind. In den Köpfen der Betroffenen und unserer Einsatzkräfte werden sie eingebrannt sein. 

Was hat Sie am meisten erschüttert?

Klemm: Bei der Erkundung des hinteren Ahrtals mit unserem achträdrigen Amphibienfahrzeug sind wir auf Bewohner kleinerer Ortschaften gestoßen. Sie waren verzweifelt. Sie waren überzeugt, man hätte sie aufgegeben. Sie dachten, sie seien vergessen worden.

Die Dorfbewohner waren fast fünf Tage lang abgeschnitten von der Außenwelt?

Klemm: Ja. Und das in dem – es fällt mir schwer zu sagen – Hochentwicklungsland Deutschland!

Viele Straßen im Katastrophengebiet sind zerstört. Konnten Sie alle Ortschaften erreichen?

Klemm: Nein. Unsere Einsatzmittel sind zu hochwertig, als dass wir sie versenken oder festfahren. Wir haben gesehen, wie Bergepanzer Feuerwehrfahrzeuge aus dem Gebiet herausgezogen haben. Da habe ich klare Order gegeben. Überall dort, wo es hieß "Versucht es halt mal", war für uns Stopp. Die Sicherheit unserer Einsatzkräfte und unseres Materials steht an erster Stelle. 

Mitarbeiter des Deutschen Rote Kreuzes (DRK) helfen im Landkreis Ahrweiler in Rheinland-Pfalz im Amphibienfahrzeug, das beim BRK in Rhön-Grabfeld stationiert ist.
Foto: Philipp Köhler | Mitarbeiter des Deutschen Rote Kreuzes (DRK) helfen im Landkreis Ahrweiler in Rheinland-Pfalz im Amphibienfahrzeug, das beim BRK in Rhön-Grabfeld stationiert ist.
Wie sind Sie zu den betroffenen Menschen im Ahrtal vorgedrungen?

Klemm: Wir haben Erkundungsteams mit unserem Amphibienfahrzeug geschickt. Wir haben Drohnen fliegen lassen, um zu sehen, was vor uns liegt. Ein Fahrer mit einem geländegängigen Motorrad hat die Bereiche erkundet, wo keine vierrädrigen Fahrzeuge mehr durchkamen. Wir trafen auf Menschen, die seit drei Tagen nichts gegessen hatten. Wir haben sie nicht gefragt, ob sie etwas getrunken haben. Es gab keine Trinkwasserversorgung!

Wo haben Sie das Trinkwasser herbekommen?

Klemm: Wir führen standardmäßig 2000 Liter Trinkwasser mit. Doch die Menge ist überschaubar, wenn das Wasser zum Trinken, Kochen, Hände waschen und Spülen gebraucht wird. Einmal hat uns das THW 5000 Liter gebracht. Die Zusammenarbeit aller Hilfsorganisationen war phänomenal. 

Was war die größte Schwierigkeit bei dem Einsatz für Sie?

Klemm: Eine der größten war die Kommunikation. Das Funknetz der Behörden, etwa von Polizei, Feuerwehr oder THW, hat in dem engen und steilen Tal nur stellenweise funktioniert. Unsere Leute mussten auf Hänge hochklettern oder einzeln mit dem Auto zurückfahren, um Meldung zu machen, während die anderen vor Ort geblieben sind. Zum Beispiel, als wir einen Dorfbewohner trafen, der sich die Schulter gebrochen hatte und einen Notarzt brauchte.

Überflutet und zerstört wurde unter anderem das Dorf Schuld im Kreis Ahrweiler. 
Foto: Boris Roessler, dpa | Überflutet und zerstört wurde unter anderem das Dorf Schuld im Kreis Ahrweiler. 
Ist Deutschland für solche Katastrophen gewappnet?

Klemm: Wir sind sehr gut vorbereitet. Im Kleinen. Wenn einzelne Häuser oder Orte überschwemmt werden. Aber nicht in dieser Dimension. Die Natur zeigt unserer hochtechnisierten Gesellschaft die Grenzen auf. In dem Moment, in dem der Strom weg ist, bricht alles zusammen. Handynetze sind sofort überlastet. Und wir werden es auch nicht schaffen - das zeigt die Situation im Ahrtal -, dass Hilfsorganisationen die ganze Bevölkerung versorgen.

Anhand der Fotos könnte man meinen, man befände sich in einem Kriegsgebiet ...

Klemm: Unsere Eltern und Großeltern, die Nachkriegsgeneration, musste tatsächlich mit ähnlichen Situationen kämpfen. Früher hatten die Menschen einen Vorratsraum mit genügend Essen und Getränken für einige Monate. Sie haben an ihrem Kohleherd auch dann kochen können, wenn kein Strom da war. Sie hatten eine gewisse Selbsthilfefähigkeit. Die ist uns total abhanden gekommen.

Ein Leopard-Bergepanzer der Bundeswehr ist im Einsatz, um im Kreis Ahrweiler Schutt zu räumen. 
Foto: Thomas Frey, dpa | Ein Leopard-Bergepanzer der Bundeswehr ist im Einsatz, um im Kreis Ahrweiler Schutt zu räumen. 
Warum glauben Sie, haben wir die Fähigkeit, uns selbst zu helfen, verloren?

Klemm: Heute sind wir es gewohnt, zum Telefon zu greifen, wenn jemand in Not ist. Der Rettungsdienst ist in zehn Minuten da. Wenn jemand eine Information braucht, genügt ein Blick ins Internet. Wir kaufen nahezu täglich Lebensmittel im Supermarkt. Trinkwasser und Strom kommen aus der Leitung. In Ahrweiler gibt es vielerorts keine Straßen mehr, kein Trinkwasser, kein Strom, kein Gas, kein Abwasser, keine Kommunikation mit Telefon oder Handy. Einfach nichts. Muss ich weiterreden?

 
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