
Eigentlich kann Alois Klemm nichts so schnell aus der Fassung bringen. Doch die Eindrücke aus dem von der Flutkatastrophe besonders betroffenen Landkreis Ahrweiler im Norden von Rheinland-Pfalz haben selbst den langjährigen Katastrophenschützer erschüttert. Seit 2005 ist Alois Klemm Leiter des Standardkontingents für Katastrophenschutz in Unterfranken. Das Kontingent besteht aus Ehrenamtlichen verschiedener Hilfsorganisationen: Bayerisches Rotes Kreuz (BRK), Malteser, Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) und Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH). Vergangenen Dienstag ist der 65-jährige Miltenberger nach 72 Stunden Einsatz im rheinland-pfälzischen Katastrophengebiet mit allen 141 Freiwilligen und 40 Fahrzeugen gesund nach Unterfranken zurückgekehrt. Im Interview spricht er über die Lage im Landkreis Ahrweiler.
Alois Klemm: Nach einer ersten halbwegs durchschlafenen Nacht wieder ganz gut. Danke.
Klemm: So einen Einsatz hat noch kein Einsatzleiter und kein Helfer in dieser Form je in Deutschland erlebt. Das sprengt sämtliche Dimensionen. Dieses Ausmaß kennen wir aus fernen Ländern, etwa von Bildern aus Thailand nach dem Tsunami 2004.

Klemm: Am Samstag um acht Uhr wurden wir alarmiert. Um zehn Uhr sollten die 141 Einsatzkräfte im Sammelraum in Hösbach (Lkr. Aschaffenburg) einsatzbereit sein. Das war utopisch. Die Ehrenamtlichen kommen aus ganz Unterfranken. Auch aus Bad Neustadt, Bad Kissingen und den Haßbergen. Von Hösbach aus haben wir es geschafft, das Kontingent gegen 14 Uhr in Richtung Nürburgring nach Rheinland-Pfalz zu verlegen und sind dort gegen 18 Uhr angekommen.
Klemm: Die Lage war unübersichtlich. Zwischen 1000 und 1500 Kräfte aus ganz Deutschland waren da. Ein Wahnsinnsaufgebot an Einheiten: Bundeswehr, Polizei, THW, Feuerwehren, Bundespolizei, Spezialeinheiten, Hubschrauber, Luftrettung. Es gab eine Lagebesprechung mit den Verantwortlichen des Landes Rheinland-Pfalz und mit unserem Vorauskommando aus Bayern.
Klemm: Wir hatten Glück. Dank der Unterstützung der örtlichen Kollegen des Roten Kreuzes konnten wir in der Blindenschule des Landes Rheinland-Pfalz in Neuwied übernachten. Sie liegt auf der anderen Seite des Rheintals, außerhalb des Schadensgebietes. Das war wichtig. Denn wenn man direkt im Einsatzgebiet übernachtet, dann fliegen die Hubschrauber drüber, dann fährt ein Bergepanzer durchs Gelände, dann rückt die Feuerwehr aus. Da kann niemand schlafen.

Klemm: In Ahrweiler haben wir von neun Uhr morgens bis Sonnenuntergang über 5800 Portionen warme Speisen ausgegeben, die wir vor Ort gekocht hatten. Wir haben über 200 Lunchpakete verteilt, mehr als 500 Liter Kaffee gekocht und über 6000 Getränkeflaschen ausgegeben, die wir mit einem LKW ins Katastrophengebiet geschafft haben. Wir haben kleinere Schnitt-, Schürf- und Platzwunden versorgt.
Klemm: Viele von uns waren Sonntag und Montag von sieben Uhr morgens bis weit nach Mitternacht im Einsatz. Die Kontingentführung, das sind etwa zehn Kollegen und ich, sowie die für die Verpflegung zuständigen Kräfte waren fast rund um die Uhr beschäftigt. Unsere Einsatzkräfte haben sich um die Angehörigen eines Verschütteten gekümmert, der unter den Trümmern tot geborgen wurde. Sie haben Menschen getröstet. Sie haben mit Schippe und Besen Plätze freigeräumt. Und sie haben Notfallseelsorger, die mit ihrem Privatauto angereist sind, in die Katastrophengebiete gefahren.
Klemm: Ich hatte die Verantwortung für das Kontingent und unsere Einsätze. Ich selbst war deshalb nicht im Katastrophengebiet, sondern in unserem Basislager in Neuwied. Von dort haben wir alles gesteuert. Ich erhielt die Lagemeldungen der Gruppenführer unserer Teileinheiten und hielt den Kontakt zu den übergeordneten Einsatzleitern. Ich musste mir ein Gesamtbild der Lage verschaffen.
Klemm: Mehr als bedrückend. Ich denke, die Betroffenen haben überhaupt noch nicht realisiert, was passiert ist und wie es weitergeht. Es wird Jahre dauern, bis die Schäden optisch beseitigt sind. In den Köpfen der Betroffenen und unserer Einsatzkräfte werden sie eingebrannt sein.
Klemm: Bei der Erkundung des hinteren Ahrtals mit unserem achträdrigen Amphibienfahrzeug sind wir auf Bewohner kleinerer Ortschaften gestoßen. Sie waren verzweifelt. Sie waren überzeugt, man hätte sie aufgegeben. Sie dachten, sie seien vergessen worden.
Klemm: Ja. Und das in dem – es fällt mir schwer zu sagen – Hochentwicklungsland Deutschland!
Klemm: Nein. Unsere Einsatzmittel sind zu hochwertig, als dass wir sie versenken oder festfahren. Wir haben gesehen, wie Bergepanzer Feuerwehrfahrzeuge aus dem Gebiet herausgezogen haben. Da habe ich klare Order gegeben. Überall dort, wo es hieß "Versucht es halt mal", war für uns Stopp. Die Sicherheit unserer Einsatzkräfte und unseres Materials steht an erster Stelle.

Klemm: Wir haben Erkundungsteams mit unserem Amphibienfahrzeug geschickt. Wir haben Drohnen fliegen lassen, um zu sehen, was vor uns liegt. Ein Fahrer mit einem geländegängigen Motorrad hat die Bereiche erkundet, wo keine vierrädrigen Fahrzeuge mehr durchkamen. Wir trafen auf Menschen, die seit drei Tagen nichts gegessen hatten. Wir haben sie nicht gefragt, ob sie etwas getrunken haben. Es gab keine Trinkwasserversorgung!
Klemm: Wir führen standardmäßig 2000 Liter Trinkwasser mit. Doch die Menge ist überschaubar, wenn das Wasser zum Trinken, Kochen, Hände waschen und Spülen gebraucht wird. Einmal hat uns das THW 5000 Liter gebracht. Die Zusammenarbeit aller Hilfsorganisationen war phänomenal.
Klemm: Eine der größten war die Kommunikation. Das Funknetz der Behörden, etwa von Polizei, Feuerwehr oder THW, hat in dem engen und steilen Tal nur stellenweise funktioniert. Unsere Leute mussten auf Hänge hochklettern oder einzeln mit dem Auto zurückfahren, um Meldung zu machen, während die anderen vor Ort geblieben sind. Zum Beispiel, als wir einen Dorfbewohner trafen, der sich die Schulter gebrochen hatte und einen Notarzt brauchte.

Klemm: Wir sind sehr gut vorbereitet. Im Kleinen. Wenn einzelne Häuser oder Orte überschwemmt werden. Aber nicht in dieser Dimension. Die Natur zeigt unserer hochtechnisierten Gesellschaft die Grenzen auf. In dem Moment, in dem der Strom weg ist, bricht alles zusammen. Handynetze sind sofort überlastet. Und wir werden es auch nicht schaffen - das zeigt die Situation im Ahrtal -, dass Hilfsorganisationen die ganze Bevölkerung versorgen.
Klemm: Unsere Eltern und Großeltern, die Nachkriegsgeneration, musste tatsächlich mit ähnlichen Situationen kämpfen. Früher hatten die Menschen einen Vorratsraum mit genügend Essen und Getränken für einige Monate. Sie haben an ihrem Kohleherd auch dann kochen können, wenn kein Strom da war. Sie hatten eine gewisse Selbsthilfefähigkeit. Die ist uns total abhanden gekommen.

Klemm: Heute sind wir es gewohnt, zum Telefon zu greifen, wenn jemand in Not ist. Der Rettungsdienst ist in zehn Minuten da. Wenn jemand eine Information braucht, genügt ein Blick ins Internet. Wir kaufen nahezu täglich Lebensmittel im Supermarkt. Trinkwasser und Strom kommen aus der Leitung. In Ahrweiler gibt es vielerorts keine Straßen mehr, kein Trinkwasser, kein Strom, kein Gas, kein Abwasser, keine Kommunikation mit Telefon oder Handy. Einfach nichts. Muss ich weiterreden?