Der Weg ist das Ziel: Diese alte Wandererweisheit hat für Anette Siegler, Sabine Köpps, Dieter Daus und Andreas Mühlenbruch besondere Bedeutung. Das befreundete Quartett aus Lohr hat vor wenigen Tagen zum wiederholten Mal eine Wanderung unternommen, bei der der Weg in besonderer Weise Ziel ist. Sie bewältigten rund 65 Kilometer zum Kreuzberg – und zwar an einem Tag.
Den von Strapazen und häufig auch Blasen an den Füßen begleiteten Marsch hinauf zum heiligen Berg der Franken nehmen alljährlich viele Menschen auf sich. Wallfahrten starten beispielsweise in Gemünden, Karlstadt, Würzburg und etlichen anderen Orten. In der Regel dauert die Pilgerwanderung jedoch zwei Tage. Das gilt auch für jene, die seit vielen Jahren vom Lohrer Stadtteil Sendelbach aus starten.
Dieter Daus wohnt in Sendelbach, war bei dieser Wallfahrt aber noch nie dabei. Stattdessen, so sagt der 59-Jährige, der beruflich geschäftsleitender Beamter der Stadt Lohr ist, sei ihm vor Jahren eine Frage gekommen: "Geht das auch an einem Tag?"
Bei der Premiere ab Gräfendorf
Um diese Frage für sich zu beantworten, machten sich Daus zusammen mit Anette Siegler und Sabine Köpps vor drei Jahren zum ersten Mal auf den Weg. Allerdings nicht von Lohr aus, sondern zunächst "nur" ab Gräfendorf. Nachdem der Probelauf gelungen war, lief Daus 2020 ab Lohr, zusammen mit Andreas Mühlenbruch. Anette Siegler und Sabine Köpps stießen damals in Wolfmünster dazu. Im Jahr darauf starteten die beiden Frauen ab Gemünden. Heuer nun machte sich auch Köpps mit Daus und Mühlenbruch zusammen in Lohr auf den langen Weg.
Gegen 2.15 Uhr in der Nacht ging jeder von sich zu Hause los. Etwa eine halbe Stunde später traf man sich auf Höhe der Schleuse Steinbach. Von dort ging es weiter über Neuendorf nach Gemünden. Dort komplettierte Anette Siegler kurz vor 5.30 Uhr die Wandergruppe.
Der erste Abschnitt, der morgendliche Gang durch die Dunkelheit sei eine besondere Erfahrung, schildern die Wanderer unisono. "Da hört und sieht man Dinge, die man sonst nicht wahrnimmt", so Andreas Mühlenbruch, von Beruf Entwicklungsingenieur bei Bosch Rexroth. Ohnehin sei es die Abwechslung aus wortlosem Wandern, Naturerlebnis und Unterhaltung, die den langen Weg präge, so Siegler (56), die in der Poststelle von Rexroth arbeitet.
Jeder geht seinen Rhythmus
Unterwegs, so schildert Daus, gehe jeder seinen eigenen Rhythmus, weswegen sich die Gruppe zwischendurch auch mal etwas auseinanderziehen könne. Den größten Teil der Strecke bewältige man jedoch gemeinsam. Spätestens bei den Pausen finde man wieder zusammen. Allerdings dauern diese meist nicht länger als zehn bis 15, höchstens 20 Minuten.
Das hat zwei Gründe: Zum einen fällt es nach längerer Rast umso schwerer, sich wieder auf den Weg zu machen. Zum anderen ist der Zeitplan straff. Leiten lassen sich die Wanderer von einer Smartphone-App. Sie zeigt den Weg an, aber auch die voraussichtliche Ankunftszeit. Die Wanderer wissen also stets, ob sie gut in der Zeit liegen oder im Tempo zulegen müssen.
Bis Gräfendorf geht es nahezu eben. Dann beginnt der kontinuierliche Anstieg – und die vermehrte Anstrengung. Das Bewältigen dieser sportlichen Herausforderung ist es, was das Quartett auf der 65 Kilometer langen Strecke immer wieder antreibt.
Gegenseitige Motivation
Natürlich komme man irgendwann auch an Grenzen, beschreibt Mühlenbruch und spricht davon, dass die letzte Etappe mehr mechanisch ablaufe. Aber in schwierigen Momenten motiviere man sich gegenseitig. "Ab 35 Kilometern geht es los", umreißt Siegler den Wegpunkt, ab dem das Wandern von ihr zunehmend Überwindung erfordert. "Da läuft man dann nur noch." Auch Sabine Köpps (56), von Beruf Sekretärin, spricht von "schon ein bisschen brennenden Füßen", die man irgendwann habe. Trotz oder gerade wegen der Strapaze vergehe die lange Wanderung "wie im Flug", sagt Daus. Auch er bekennt jedoch, dass "die letzten zwei Stunden zäh" seien.
Ohne eine gewisse Grundfitness, da ist sich das Quartett einig, wären die 65 Kilometer am Stück nicht zu bewältigen. Und so treiben sie alle regelmäßig Sport oder sind in irgendeiner Weise in Bewegung: Joggen, Walken, Schwimmen, Kajak und immer wieder längeres Wandern. "Von der Couch weg ist so etwas nicht zu machen", ist Siegler überzeugt.
Und wie sieht es mit der Verpflegung aus? Wer eine Aufzählung von isotonische Wundergetränken oder Powerriegeln erwartet hat, wird überrascht: "Selbstgeschmierte Butterstullen und Apfelschorle", beschreibt Mühlenbruch seinen Rucksack-Inhalt. "Brote, Gurke, gelbe Rübe, was Gesundes halt", lässt auch Daus erkennen, dass die Wanderer aus dem Energienachschub keine Wissenschaft machen.
Proviant aus dem Rucksack
Jedoch will die Rucksackfüllung durchdacht sein. Nicht nur, weil man, wie im Fall der jüngsten Kreuzberg-Wanderung, für Regenschauer gerüstet sein sollte. Sondern auch, weil die Möglichkeiten der Verpflegung unterwegs überschaubar sind: eine Bäckerei in Gräfendorf, später ein Getränkeautomat einer Tankstelle – das sind die einzigen Stationen, an denen "nachgetankt" werden kann.
Und dann natürlich am Zielpunkt: Die Klostergaststätte auf dem Kreuzberg. Die finale Einkehr dort mit Brotzeit und Bier sei das "Ziel, auf das man sich freuen kann", sagt Daus. Diesmal erreichten die Wanderer dieses Ziel nach gut 15 Stunden gegen 18 Uhr, etwas später als geplant. Der Schlussrast vorausgegangen war noch das "Sahnehäubchen", wie es Daus nennt: der rund 300 Treppenstufen lange Aufstieg zur Kreuzigungsgruppe am Kreuzberg.
Dass es sich im kommenden Jahr wieder auf den Weg dorthin machen wird, steht für das Lohrer Quartett bereits fest. Köpps, Mühlenbruch und Daus werden wieder in Lohr starten, Anette Siegler in Gemünden oder vielleicht Gräfendorf. "Man muss seine Grenzen kennen", sagt die Weitwanderin.