Die Leiden des Krieges sind für viele Menschen in Deutschland heute unvorstellbar. Doch vor 75 Jahren – am 23. Februar 1945 – waren sie für die Kitzinger harte Realität. Bei dem Bombenangriff der Amerikaner starben 700 Menschen. Es wurden 800 Wohnhäuser zerstört. Diejenigen, die überlebten, beschäftigen die Geschehnisse teilweise noch heute. Vier Zeitzeugen erzählen, wie sie den Bombenangriff auf Kitzingen als Kinder erlebt haben.
Franz-Heinz Krauß spielt, als der Bombenalarm losgeht
Franz Heinz Krauß bezeichnet sich als "echten Kitzinger". Dort ist er geboren, aufgewachsen und bis heute geblieben. Den Bombenangriff am 23. Februar 1945 erlebte er als Achtjähriger hautnah. Seine Familie wohnte damals in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs, am Bernbeckplatz.
Sein Leben lang beschäftigt ihn das Kriegsende und die Nachkriegszeit. Als Zeitzeuge geht er an Schulen und erstellte sogar eine Karte mit den Bombeneinschlägen und beschädigten Gebäuden in Kitzingen.
"Ich hab den Tag des Bombenangriff als einen sonnigen in Erinnerung", sagt der heute 83-Jährige. An dem Vormittag ist er mit seinem Bruder und der Mutter zuhause. "Mein Vater war Soldat und bei der Wehrmachtsfeuerwehr in Berlin." Warum er an dem Tag nicht in der Schule war, weiß er heute nicht mehr genau. Er spielt gerade in seinem Zimmer, als plötzlich der Voralarm losgeht.
Flugzeuge am Himmel faszinierten – bis die Bomben fielen
"Eigentlich war meine Mutter immer die erste, die bei Alarm im Keller war", sagt er. Diesmal steht sie in der Küche und kocht das Mittagessen. Auch dass die Nachbarn schon rufen, sie solle doch in den Keller kommen, beirrt seine Mutter an dem Tag nicht. Wenig später sieht sie die Flugzeuge und ruft ihren Kindern zu, aus dem Fenster zu schauen. "Vom Main aus sind sie hergeflogen, in Formation", sagt Franz Heinz Krauß. Die Flugzeuge funkeln in der Sonne. Auf den ersten Blick ist es ein atemberaubender Anblick.
"Dann seh ich aus den Flugzeugen etwas Glitzerndes rieseln." Seine Mutter schreit. Bomben fallen vom Himmel. Voller Panik rennt die Familie Richtung Keller. Dazu müssen sie raus ins Freie und um das Haus. Als sie gerade an der Haustür sind, schlagen die Bomben ein. "Es hat gescheppert, es hat gekracht", sagt Krauß – ein Höllenlärm. "Ich hatte furchtbare Angst." Durch die Druckwellen flattert die Haustür. Er sieht die Bomben blitzen. Dann ist plötzlich Stille.
Kitzingen: Eine Welt aus Schutt und Dreck
Die zweite Angriffswelle erlebt er in der Wohnung einer Nachbarin, Frau Krüger. "Die saß am Küchentisch und betete", erinnert sich Franz Heinz Krauß. Er und seine Familie kauern derweil unter einer Küchenspüle. Dann ist wieder Ruhe. Die Familie rennt in den Gewölbekeller eines Nachbarns. "Nach uns haben sie die Tür zugemacht", sagt er. In dem tiefen Keller sind die Geräusche leiser, bis sie irgendwann komplett verstummen.
Nach einiger Zeit verlasen sie den Keller. Was Franz Heinz Krauß dann sieht, wird er nie vergessen. "Die ganze Welt hatte sich verändert", sagt er – überall Schutt und Dreck. "Das Dach von unserem Haus war wie ein Korbgeflecht, genauso bei den Nachbarn." In der Wohnung liegen dicker Staub und die Trümmer der Fensterscheiben. Aber er und seine Familie überleben unverletzt.
Lydia Kerkel wurde am Tag des Angriffs geboren
Wirklich erinnern an den Bombenangriff kann sich Lydia Kerkel nicht – sie war zu dem Zeitpunkt gerade eine Stunde alt. "Ich wurde an dem Tag gegen 10 Uhr geboren", sagt sie. Eigentlich kommt Lydia Kerkel aus Sickershausen, wohnt aber heute in Kitzingen. Es war mehr oder weniger Zufall, dass sie den Angriff miterlebte. Ihre Mutter brachte sie an dem Tag in der Klinik in der Mainstockheimer Straße auf die Welt.
Was passiert ist, weiß Lydia Kerkel nur aus Erzählungen. "Als der Alarm losging, mussten alle raus in den Keller der Klinik", sagt sie. "Krankenschwestern haben die Säuglinge rausgetragen." Zeit zum Anziehen gab es keine, die Mütter mussten barfuß und im Nachthemd gehen. Im Keller warteten sie das Ende des Angriffs ab.
Mutter kämpft ihr Leben lang mit Spätfolgen
"Die Klinik hat keinen Treffer abbekommen", sagt Lydia Kerkel. Doch obwohl ihre Mutter den eigentlichen Angriff überlebte, hatte sie ihr Leben lang mit den Folgen zu kämpfen. "Von einer Lungenentzündung, die sie sich im kalten Keller zugezogen hatte, erholte sie sich nie", sagt Lydia Kerkel. Ihre Mutter war lange ans Bett gebunden und verstarb 1961 im Alter von 50 Jahren.
Günter Krauß ist beim Voralarm in der Schule
Günter Krauß lebt heute in Nürnberg. Doch er wuchs in Kitzingen auf, wo er als Siebenjähriger den Bombenangriff miterlebte. "Der Tag begann wie ein ganz normaler Werktag", erzählt der heute 82-Jährige am Telefon. Er ist also in der Schule, als um etwa 10.30 Uhr der Voralarm beginnt. "Wir hatten keine Angst, das war zu der Zeit fast Alltag." Doch dann hören sie das Brummen der Bomber. Plötzlich heult der Vollalarm. Er und seine Mitschüler rennen nach Hause.
Am Königsplatz kommt Günter Krauß seine Großmutter entgegen. "Wo rennst du noch rum?", fragt sie ihn."Es fallen schon Bomben!" Er soll mit in den Keller der damaligen Sparkasse in der Luitpoldstraße, wo heute diese Redaktion untergebracht ist. "Auf dem Weg dorthin hörten wir schon die ersten Bomben mit unheimlichem Zischen und Krachen einschlagen", sagt er. Sie schaffen es in den Keller.
Säuglinge sterben im Keller der Sparkasse
"Ein Volltreffer schlug gegenüber im Schwesternheim ein", sagt Günter Krauß. Der Luftdruck ist so stark, dass die eisernen Kellerfensterläden an der Sparkasse wegfliegen. Feuer flackert. "Ich hab das heute noch vor Augen", sagt Günter Krauß traurig. "Durch den starken Druck starben unter uns einige Säuglinge." Ihnen sind die Lungen geplatzt.
"Ich schrie nach meiner Mutter", sagt er. Doch die ist mit seinen Geschwistern daheim im Keller. In der Sparkasse herrscht Chaos. "Manche Menschen saßen in sich versunken oder jammerten", erinnert er sich. "Andere schrien durcheinander oder lachten geschockt." Dann ist es plötzlich still draußen. Es war die erste Angriffswelle.
Haus der Familie völlig zerstört
"Ich wollte heim zu meiner Familie", sagt Günter Krauß. Er schleicht sich aus dem Keller auf die Straße. "Teilweise musste ich über Schutt oder Trümmerhaufen klettern." Er schafft es zu seinem Elternhaus in der Oberen Bachgasse. Was er dort sieht, ist nur noch ein Trümmerhaufen. "Ich war wie versteinert", sagt er. "Meine Schockstarre löste sich erst, als ich es wieder krachen hörte." Er rennt zurück in den Keller der Sparkasse.
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Der schwärzeste Tag in der Geschichte
"In meiner Erinnerung war die zweite Angriffswelle nicht so heftig wie die erste", sagt Günter Krauß. Nach der Entwarnung leert sich der Keller schnell. "Oma und ich stolperten und krochen über Trümmer Richtung Haus." Die Luft ist voll mit aufgewirbelten Staub. "Wir konnten schwer atmen und hatten schrecklich Durst", sagt er. Beim Gasthaus "Deutscher Kaiser" neben ihrem zerstörten Haus bekommen sie Wasser.
Bombe tötet Geschwister und Mutter
Sein Vater sieht den Bombenangriff von Herrnsheim aus. Dort arbeite er als Ausbilder im Flugzeugbau. "Er setzte sich sofort auf ein Fahrrad und fuhr nach Kitzingen", erinnert sich Günter Krauß. Um etwa 13.30 Uhr kommt er an seinem Haus an und macht sich auf die Suche nach seiner verschütteten Familie.
Günter Krauß geht mit seiner Oma für die nächste Zeit zu seiner Tante Katrin nach Obereisenheim. "Nach ungefähr einer Woche kam Vater und musste uns sagen, dass alle tot gefunden und beerdigt sind." Sechs seiner Angehörigen – seine Mutter, zwei Geschwister und die Kinder seiner Tante– sind bei dem Angriff ums Leben gekommen. Eine Bombe fiel direkt in den Keller und explodierte dort. Sie hatten keine Chance.
Werner Philipp Hohmann sollte eigentlich im Kindergarten sein
Auch Werner Philipp Hohmann hat Kitzingen mittlerweile verlassen. Er wohnt heute in München und erzählt am Telefon die Geschichte, wie er den Bombenangriff überlebte. Am Kitzinger Schicksalstag ist er fünf Jahre alt und lebt mit seiner Familie in der Kanzler-Stürtzel-Straße. Eigentlich soll er wie jeden Tag in den Kindergarten, in dem später alle 30 Kinder und ihre Betreuerinnen durch eine Bombe umkommen werden.
Dass er gerade an dem Tag nicht geht, liegt an einem Streit mit seinem Vater. "Er wollte, dass ich endlich alleine zum Kindergarten laufe", sagt der heute 80-Jährige. Sonst brachte ihn immer seine Mutter. "Ich wollte nicht alleine gehen und weigerte mich." Für seinen Ungehorsam kassiert er eine Ohrfeige. "Es war das erste Mal, dass ich mich meinem Vater so gegenüber verhalten habe."
"Es war Schicksal" – Ungehorsam rettet ihm das Leben
Er und seine Mutter bleiben daheim. Der Vater geht zur Arbeit. "Er war Geschäftsführer bei der BayWa." Als der Alarm geht, rennen Werner Philipp Hohmann und seine Mutter in den Keller. Dort harren sie den Angriff aus. "Es war furchterregend", erinnert er sich. Die längste Zeit ist er alleine im Keller. "Meine Mutter war gleich draußen unterwegs, um zu helfen."
Seine Familie überlebt, und auch das Haus übersteht den Angriff . "Es war Schicksal, dass ich an dem Tag nicht in den Kindergarten bin", sagt Werner Philipp Hohmann. Sein Ungehorsam rettete ihm das Leben. "Die Ohrfeige war auch die letzte, die ich je von meinem Vater bekommen hab."