Die Geschichte eines „Wolfskinds“ in Kitzingen erschütterte vergangene Woche die Region. Vier Kinder, darunter ein Kleinkind, lebten in einer völlig verdreckten Wohnung. Die Eltern – beide arbeitslos, beide selbst aus prekären Verhältnissen – schafften es nicht, sich um die Kinder zu kümmern. Stinkend und hungrig mussten sie in die Schule und in den Kindergarten. Obwohl dem Allgemeinen sozialen Dienst (AsD) in Kitzingen die Familie bekannt war, dauerte es lange, bis er einschreiten konnte. Das tatsächliche Ausmaß der Verwahrlosung überraschte auch den AsD-Leiter Bernd Adler.
Frage: Wolfskind bedeutet, dass das Kind von Menschen isoliert aufwächst und sich deshalb das Verhalten von normal sozialisierten Kindern unterscheidet. Das Wolfskind aus dem Landkreis Kitzingen wuchs in seiner Familie auf. Warum haben Sie diesen Begriff gewählt?
Bernd Adler: Ich wollte den Jugendhilfe-Ausschuss über die Unterbringungen in diesem Jahr informieren, die sprungartig angestiegen sind, da wir mehrere Kinder aus ihren Familien nehmen mussten. Anhand des einen Kindes wollte ich erklären, warum seine Betreuung 13 500 Euro kostet. Ich wollte mit einem Schlagwort verständlich machen, welches Ausmaß an Auffälligkeiten dieses Kind hat und welche umfangreiche Unterstützung nötig ist.
Ich habe den Begriff nicht aus der geschichtlichen Betrachtung gewählt, sondern wollte mit wenigen Worten auf die schwere Verwahrlosung hinweisen.
Eine total verdreckte Wohnung und vier verwahrloste Kinder. Warum ist das Amt nicht früher eingeschritten?
Adler: Es war eine Kette von Ereignissen. Es war eine Familie, die niemanden in die Wohnung ließ. Wir wussten nicht, was genau in der Familie vor sich geht. Wir hatten Meldungen von der Schule, dass die Kinder riechen, ungepflegt sind und keine Brotzeit dabei haben. Wir haben diese Dinge angemahnt und sie haben sich für einige Wochen verbessert. Dann ging es wieder los. Es war eine Familie, die wir ereignisbezogen immer wieder besucht haben und die wir wiederholt dem Familienrichter meldeten. Punktuell haben sie immer eingelenkt, um schlimmeren Maßnahmen zu entgehen.
Die Hände waren Ihnen gebunden, weil Ihnen die Familie immer wieder entgegengekommen ist?
Adler: Die Einzelereignisse waren nicht so, dass man von einer akuten Kindswohlgefährdung sprechen konnte. Es gab Hinweise, Anhaltspunkte, Meldungen der Polizei Kitzingen. Eine Streife sah zum Beispiel das Kind im Kindergartenalter – das besagte Kind – abends mit einem fremden Mann weit weg von der Wohnung spielen. Der Vater raunzt die Polizisten an und knallt die Tür zu. Die Polizei faxt uns einen Vermerk, wir bestellen die Familie ein, sie sagt zweimal ab, kommt irgendwann doch und liefert wortreiche Erklärungen ab.
Was war der endgültige Auslöser?
Adler: Letztlich war es die Summe der Ereignisse. Was den Fall verändert hat, war ein offensichtlicher Niedergang der Eltern – wodurch auch immer beeinflusst und ausgelöst. Die Meldungen nahmen zu. Die Familie ist umgezogen von einem Wohnhaus ohne Nachbarn in ein Haus mit vielen Nachbarn. Dann wurden die Meldungen klarer, eindeutiger und bedrohlicher. Das besagte Kind werde ausgesperrt und schreie stundenlang vor der Tür. Eine Nachbarin sagte, dass die Kinder zu ihr zum Essen kommen – häufig gegen Monatsende. Irgendwann war's zu viel.
Wie war der Zustand der Kinder?
Adler: Mit dem Sorgerechtsentzug hatten wir zum ersten Mal Zutritt zur gesamten Wohnung und wir haben das Ausmaß gesehen. Das kleinste Kind, ein Baby, war in der Wohnung. Wir fanden es schlafend am Boden, weil es kein Bett hatte. Die Mitarbeiterinnen waren tagelang schockiert. Die anderen Kinder holten wir von Kindergarten und Schule. Das „Wolfskind“ war völlig ungesteuert und schrie. Jede Nacht nässte es ein, weil ihm die Eltern mit dem Horrorclown drohten.
Das fiel im Kindergarten nicht auf?
Adler: Es war ein Kind, das in der Gruppe nicht führbar war. Deswegen hat sich eine Mitarbeiterin einzeln um das Kind gekümmert und es aus dem Gruppengeschehen herausgenommen. Ein großer Aufwand, aber noch im Rahmen. Und jetzt kommt der Punkt, der die Situation zum Eskalieren gebracht hat: Wir haben das Kind aus seinem bisherigen Leben, aus seiner Familie, genommen und das ist für Kinder traumatisch. Wir haben es von einer regel- und strukturlosen Nichtsmachen-Umgebung in ein hochstrukturiertes und förderliches Umfeld gebracht. Das Kind reagierte irritiert, es schreit, beißt, spuckt und gefährdet sich teilweise selbst.
War es sinnvoll, dieses Kind gleich einzuschulen?
Adler: Erst war es stationär in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, da wir nicht genau wussten, was mit dem Kind ist. Heute wissen wir, es ist nicht behindert, ist im Kern normalbegabt, hat aber einen großen Entwicklungsrückstand. Das heißt, großer Förder- und erzieherischer Bedarf. Jetzt hätten wir auf noch mehr Eins-zu-Eins-Bezug umstellen können, aber wir wollen es bei seinen Geschwistern in einer Einrichtung lassen – auch wenn es im Moment aufwändig und umständlich ist. Es ist zwei Stunden am Tag mit einem Schulbegleiter im Unterricht. Das ermöglicht ihm ein Stück Teilhabe und Normalität.
Wird es besser?
Adler: Wir nehmen Verbesserungen wahr. Wir zählen im Moment die Wutausbrüche und Eskalationen pro Tag und solange wir sehen, dass sie abnehmen, reden wir von einer Verbesserung.
Ist je ein normales Leben möglich?
Adler: Ich weiß es nicht.
Und die Geschwister?
Adler: Denen geht es besser, weil sie älter sind. Sie sind auch entwicklungsrückständig, aber fitter. Die Kinder haben schlimme Erfahrungen gemacht. Sie sind argwöhnisch und misstrauisch.
Welche Rechte haben ihre Eltern?
Adler: Die Wegnahme eines Kindes ist der stärkste Eingriff ins Elternrecht. Ziel ist immer, dass die Kinder wieder zu den Eltern kommen. Deswegen gilt es zu klären, ob es eine Rückkehroption gibt. Wenn ja, muss sofort an ihr gearbeitet werden. Ein Beispiel: Suchtabhängige Eltern gehen in Entzug, weisen ihre Abstinenz über einen längeren Zeitraum nach, dann gewähren wir Besuchskontakte, begleiteten und unbegleiteten Umgang, stundenweise, tageweise, in den Ferien – bis zu einer Rückführung. Diese Familie zeigt aktuell keine Aktivitäten, aus denen man schließen kann, dass man eine Rückkehr in Betracht ziehen kann. Wir gehen von einer längerfristigen Betreuung aus.
Das hört sich deprimierend an.
Adler: Ja, es gibt den Kindern aber auch eine klare Perspektive. Viele sitzen zwischen den Stühlen, fühlen sich hingezogen zu den Eltern, fühlen sich aber auch in den Pflegefamilien wohl. Eine klare Sicht auf die Zukunft hilft ihnen.
Hat die Kindervernachlässigung strafrechtliche Folgen für die Eltern?
Adler: Die Frage ist schwierig zu beantworten. Unsere Aufgabe ist es, die Kinder zu schützen und ich verstehe, dass die Gesellschaft hier wütend ist.
Wie schnell können Sie bei Kindswohlgefährdung einschreiten?
Adler: In manchen Fällen sofort, in manchen Fällen dauert es Jahre, bis man einschreiten kann. Eine Kindswohlgefährdung, die einen Eingriff gegen den Willen der Eltern rechtfertigt, ist nur möglich, wenn die Lage akut ist, gegenwärtig ist und eine Schädigung des Kindes mit hoher Wahrscheinlichkeit zeitnah eintritt. In akuten Fällen – zum Beispiel sind die Eltern so im Rausch, dass sie sich blutig schlagen und die Wohnung zerstören – ruft mich die Polizei an. Ich vermittele das Kind dann an eine von zwölf Bereitschaftspflegefamilien im Landkreis, die Tag und Nacht zur Verfügung stehen.
Was sind das für Familien?
Adler: Es sind ganz normale, aber erfahrene Pflegefamilien, die jedoch keine spezielle Ausbildung haben. Meine Kollegen und ich kennen sie schon lange und wissen, welches Kind in welche Familie passt.
Wie war die Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren?
Adler: Es gibt erst seit 2012 eine bundesweit einheitliche Statistik. Vorher haben wir eigene Statistiken geführt. Aus meiner 33-jährigen Berufserfahrung kann ich sagen, dass die Fälle zugenommen haben. Wir behandeln bei uns im Landkreis im Durchschnitt jedes Jahr zwischen 80 und 100 Verdachtsfälle, davon gibt es bei der Hälfte keine gewichtigen Anhaltspunkte für eine Kindswohlgefährdung. Bei der anderen Hälfte nehmen die Fälle zu, bei denen wir tatsächlich die Kinder rausnehmen oder es zu anderen familiengerichtlichen Maßnahmen kommt.
Warum?
Adler: Ich weiß es nicht. Es scheint Faktoren zu geben, die sich in einer bestimmten Schicht zunehmend auswirken. Die Eltern sind benachteiligt, bildungsfern und bringen wenig eigene Ressourcen von zu Hause mit. Auch Suchtfaktoren wirken sich fatal aus.
Wie haben sich die Kosten entwickelt?
Adler: Wie die Kosten im Gesundheitswesen – sie steigen kontinuierlich. Ein heilpädagogischer Platz kostet circa 4000 bis 5000 Euro pro Kind im Monat, ein therapeutischer mindestens 6000 Euro. 2015 hatten wir für die Unterbringung von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen in Heimeinrichtungen Ausgaben von knapp über zwei Millionen Euro, 2016 von 2,2 Millionen Euro, 2017 wird es sich auf ähnlichem Niveau bewegen. Im Moment sind 71 Kinder bei Pflegefamilien und 37 Kinder in Heimeinrichtungen untergebracht.
Sie kümmern sich seit über 30 Jahren um vernachlässigte und gefährdete Kinder. Gibt es auch positive Rückmeldungen?
Adler: Wir verlieren die Kinder aus den Augen, die später eine normale Entwicklung nehmen. Leider bleiben alle in Erinnerung, bei denen alles schiefgeht. Wir haben aber auch Rückmeldungen von Ehemaligen, über die wir uns freuen. Zu mir kam eine Frau, mittlerweile selbst Mutter, die ich 1986 aus ihrer Familie rausgenommen habe und sie sagte mir, wie dankbar sie dafür ist.
Übrigens sollen sich Wölfe zu ihren Kindern, gelegentlich sogar zu Menschenkindern, besser verhalten als gewisse Menschen zu ihren Kindern.
Die Drohung mit dem Horrorclown erinnert mich an den Knecht Rupprecht. Das taugt nicht um ein Trauma zu erzeugen. Für ein Trauma braucht es echten Horror, grobe körperliche Gewalt, Vergewaltigung usw.
Um das alles jahrelang nicht zu bemerken müsste ein Pädagoge aktiv wegschauen. Das war anscheinend nicht der Fall. Ignorant war wohl das AsD und entsprechend redet jetzt dessen Leiter rum um nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können. Zu spät, er hätte was tun könn muss.