Wenn Eileen M. aus dem Fenster blickt, öffnet sich der Blick über den Gardasee. Rund 500 Meter Fußweg sind es von ihrem Haus hinunter zu diesem Sehnsuchtsort, der zu dieser Jahreszeit normalerweise voller Leben ist. In diesem Frühjahr aber ist alles anders. Die Corona-Krise hat Italien voll im Griff, und damit ruht auch der See, so still und starr wie nie, seitdem ihn eine immer weiter wachsende Zahl von Touristen für sich entdeckt hat.
Eileen M. ist keine Touristin, die Dettelbacherin ist in Italien heimisch – so lange, dass sie beim Erzählen bisweilen nach dem passenden deutschen Wort suchen muss. Wenn sie die Lage derzeit mit einem Begriff beschreiben soll, sagt sie: „Katastrophe!“ Unter der Bedingung, dass sie nicht mit vollem Namen genannt wird, ist sie bereit, ihre Geschichte zu erzählen.
5400 Einwohner hat Manerba del Garda am Südwestufer des Sees, aber im Sommer tummelt sich hier ein Vielfaches an Touristen. Der beschauliche Ort wirbt mit mehr als 300 Sonnenstunden im Jahr – und mit Ruhe, etwa im Vergleich mit dem bekannteren Sirmione, das bei 8000 Einwohnern zuletzt 1,36 Millionen Übernachtungen zählte. Und mancher stellte schon die Frage: Wie soll das weitergehen? Diese Probleme hätten sie jetzt gerne, nicht nur am Gardasee. Lokale Hoteliers fürchten, so hat Eileen M. es gehört, dass die Saison für dieses Jahr wohl gelaufen sei. Was das bedeutet für eine lange Zeit von der Sonne beschienene Region mit mehr als 24 Millionen Gästeübernachtungen jährlich, weiß sie nur zu gut: „Wenn hier alles zubleibt, ist das für viele der Tod.“
Im Sommer müssen private Baustellen ruhen
Für Eileen M. wäre diese Zeit jetzt Hochsaison. Die selbstständige Architektin arbeitet hauptsächlich für deutsche Kunden, für die sie rund um den See möglichst klimaneutrale Häuser plant. Im Sommer, zur Hauptreisezeit, müssen die privaten Baustellen ruhen. Der Baulärm verträgt sich nicht mit den Bedürfnissen der Urlauber nach Ruhe und Erholung. Ihr Zeitfenster öffnet sich im Oktober, wenn die Touristen den See verlassen haben, und es schließt sich etwa um Pfingsten. Aber statt ihre Baustellen abzuklappern, sitzt sie mittlerweile die siebte Woche zu Hause und wartet. „Manchmal denke ich, ich drehe durch. Neulich hat es mal ein paar Tage geregnet. Da konnte ich nicht mal in den Garten.“
Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte hat jüngst in einem Beitrag für die "Zeit" von Krieg gesprochen. Er denke viel darüber nach, was es bedeute, 60 Millionen Italiener dazu zu zwingen, zu Hause zu bleiben, während im Fernsehen täglich Hunderte Särge gezeigt würden mit den Gefallenen dieses Krieges gegen einen unsichtbaren Feind. „Zwei Wochen lang gab es in der Provinz Brescia 75 bis 80 Tote – jeden Tag“, sagt Eileen M. Die Statistiken gleichen Fieberkurven, die von Ende Februar an dramatisch steigen und Mitte März ihren vorläufigen Zenit erreicht haben. Zuletzt ging die Zahl der Infizierten und der Todesfälle zurück. Prompt öffneten im Land wieder Baumärkte, Zeitschriftenläden und Gärtnereien. Genau diese Unbekümmertheit, für die sie Italien an heiteren Tagen so schätzt, treibt Eileen M. nun fast in den Wahnsinn.
Erst feiern sie Karneval, dann ist es gespenstisch leer
Der Gardasee gehört größtenteils zur Region Brescia, die wiederum die größte Provinz der Lombardei ist. Im Februar ist hier „Patient 0“ lokalisiert worden, seitdem hat sich das Virus rasend schnell verbreitet. Eileen M. weiß noch genau, wie alles losging. Es war Faschingssonntag, sie machte sich auf den Weg zu einem Termin nach Salò, den nächstgrößeren Ort, mit malerischer Uferpromenade und reizvoller Altstadt.
Als sie dort ankam, feierten die Menschen auf den Straßen ausgelassen Karneval, und Eileen M. ärgerte sich, dass sie kaum einen Parkplatz fand. Dreieinhalb Stunden besprach sie sich mit ihrem Kunden auf der Baustelle. Als sie zurück auf die Straße kam, war dort keine Menschenseele mehr anzutreffen. „Die Gemeinde hatte ein Dekret erlassen, dass alle öffentlichen Plätze zu räumen seien, Schulen, Museen und dergleichen geschlossen bleiben müssen – einen Tag noch vor der Lombardei.“ Am gleichen Abend noch sprach sie mit ihrer Schwester, die als Ärztin in der Schweiz arbeitet. „Sie sagte, ich solle meine Koffer packen und gehen. Es komme noch viel schlimmer.“ Aber Eileen M. blieb. „Die erste Woche habe ich gar nicht gearbeitet. Ich war wie gelähmt.“
Über den See kreisen Drohnen und Hubschrauber
Anfangs ging sie noch raus, lief runter zum See – bis die Kommune auch dies unter Androhung von 400 Euro Strafe verbot. „An Ostern waren überall Kontrollen. Sogar Drohnen und Hubschrauber flogen über die Orte am See, um die Massenverschiebung an den See und in die Ferienhäuser zu kontrollieren“, erzählt Eileen M. Sie geht nur noch zum Einkaufen vor die Tür und ab und zu in ihren Garten vors Haus. In den Supermärkten sind Mundschutz und Handschuhe Pflicht, sie darf ihre Lebensmittel nur im eigenen Ort besorgen, und zu Hause muss sie die Kleidung wechseln und ihre Einkäufe desinfizieren.
Eileen M. macht jetzt jeden Morgen eineinhalb Stunden Yoga – einfach, um geistig und körperlich in Bewegung zu bleiben. Sie bucht Seminare im Internet, das bringt sie immerhin beruflich weiter und gibt ihr den Eindruck, etwas Sinnvolles zu tun. Es sind kleine Fluchten aus dem Alltag. Was soll sie auch tun? Weil Fahrten über Land verboten sind, hat sie ihren Partner, der etwa 20 Autominuten von ihr entfernt wohnt, wochenlang nicht mehr gesehen. Sie können jetzt nur noch telefonieren. Auch mit ihren Eltern in Deutschland spricht sie regelmäßig übers Handy. Den Gedanken, sie zu besuchen, die Krise in ihrer deutschen Heimat auszustehen, wo die Menschen immerhin spazieren gehen und Rad fahren dürfen, hat sie rasch verworfen. „Meine Eltern sind 70“, sagt Eileen M. Sie gehören zur Risikogruppe.
Italien bot die Möglichkeit, kreativ und frei zu sein
Bis 3. Mai soll der Hausarrest noch dauern. Was dann kommt? Keiner weiß es. Eileen M. liebt Italien. Sie hat Architektur studiert in Venedig und dann noch eine Zeit lang als Angestellte in Deutschland gearbeitet. Aber irgendwie wurde ihr das zu eng. Alles nahm man ihr ab im Job, sie durfte nicht selbst zeichnen, und wenn es was zu tippen gab, erledigte das eine Sekretärin. Was sie wollte, war frei und kreativ zu sein, sich auszuleben. Auch das bot ihr Italien. Heute wundert sie sich mitunter über sich selbst – wie ungezwungen sie war. Sie liebt Italien noch immer, aber mit 49 denkt sie anders über manche Dinge wie Rente oder Krankenversicherung, und vielleicht hat diese Krise ihren Teil dazu beigetragen.
Eileen M. ist ins Grübeln gekommen. Sie erlebt gerade einen Staat, der schon im Normalbetrieb Probleme hat, sich effizient zu organisieren. Jetzt, im Katastrophenfall, springen an allen Ecken und Enden des Systems die Rädchen raus. Dass Bars und Cafés noch geöffnet hatten, als die Notaufnahmen vieler Krankenhäuser schon kollabierten und die ersten Corona-Toten beklagten, dass es jetzt schon wieder Lockerungen gibt, hat Eileen M. nachdenklich gemacht. Sie ist über die Jahre wieder ein Stück deutscher geworden – sie selbst sagt das so. Hat sie je darüber nachgedacht, wieder ganz nach Deutschland zurückzukehren? Das schon, aber: „Es ist nicht mehr so einfach zu sagen: Tschüss.“