Es war schon Nacht, als Wolfram Viertelhaus seine Abendrunde drehte. Im Schein der Kerzen erkannte er die Umrisse einer Frau. Sie saß in einer Kirchenbank, ganz still und in sich versunken. Als sie die Gegenwart eines anderen Menschen spürte, blickte sie auf.
"Wir kamen ins Gespräch", erzählt Viertelhaus. "Die Frau war eine lange Strecke bis zu unserer Autobahnkirche gefahren. Genau hier, so sagte sie, finde sie den Frieden und die Ruhe, die sie brauche, um sich mit ihrem verstorbenen Mann auseinanderzusetzen." In der Ehe sei nicht alles, was glänzte, Gold gewesen. Das beschäftigte sie. "Wir haben fast eine ganze Stunde miteinander geredet. Es hat sich einfach so ergeben", stellt Viertelhaus fest. "Nicht nur für die Frau, sondern auch für mich war das Gespräch sehr wertvoll."
Spirituelle Auffangbecken für Reisende und aus der Kirche Ausgetretene
Erlebnisse wie dieses bestärken den Theologen Wolfram Viertelhaus und all die anderen Ehrenamtlichen in ihrem Engagement für die 44 deutschen Autobahnkirchen. "Es gibt viele Menschen, die in ihrer Heimatgemeinde nicht mehr verwurzelt sind", weiß Viertelhaus, "oder es noch nie waren." Doch auch sie brauchen immer wieder einen Rückzugsort, einen Platz, an dem sie stets willkommen sind und ihre Sorgen abgeben können. Vielen dieser Menschen kommen Autobahnkirchen gerade recht: Mit ihren langen Öffnungszeiten sind sie ein neutrales spirituelles Auffangbecken nicht nur für Reisende, die einen erholsamen Stopp einlegen wollen, sondern für alle Menschen, auch für diejenigen, die aus der Kirche ausgetreten sind.
"Es gibt immer mehr Menschen, die mit der Institution Kirche nichts mehr anfangen können oder wollen, die aber trotzdem gläubig sind." Diese Erfahrung hat auch Manuela Strohofer gemacht. Ihre Familie hat vor 22 Jahren die Autobahnkirche in Geiselwind gebaut, direkt auf dem Gelände des Autohofes. Als Verantwortliche für die Kirche sowie Wortgottesdienstleiterin hat Manuela Strohofer viele Schicksale miterlebt und mitgetragen. Sie erzählt von einer Frau aus der Umgebung, die tagtäglich in die Autobahnkirche kommt – "unter anderem, weil es hier warm ist" –, aber auch von einer Familie, die hier Jahr für Jahr dem Sohn gedenkt, der auf der Autobahn tödlich verunglückte.
Zwei von fünf Besuchern haben sonst wenig Beziehung zur Kirche – dieses Ergebnis hat eine Umfrage erbracht, die der VRK (Versicherer im Raum der Kirchen) initiierte. Die VRK-Akademie, Ende der 1970er-Jahre gegründet, ist eine Art Dachverband, der die Autobahnkirchen vernetzt. "Rund eine Million Menschen besuchen jedes Jahr eine Autobahnkirche. Sie schätzen dort vor allem die Ruhe und Anonymität", fasst VRK-Akademie-Geschäftsführer Georg Hofmeister die Umfrage-Ergebnisse zusammen.
Anonymität? Ist das nicht genau das Gegenteil von dem, was Kirche eigentlich ausmachen soll, nämlich Gemeinschaft? Georg Hofmeister wiegt bedächtig den Kopf hin und her: "Anonymität heißt nicht Einsamkeit. Es bedeutet vielmehr, dass jeder kommen kann, man muss nichts können und nichts wissen, auch keine Liturgie, man wird nicht beäugt, das Angebot ist ganz niederschwellig." Vor allem Menschen aus der Umgebung, die in ihrer eigenen Gemeinde nicht integriert sind, schätzen diese Tatsache, sagt Hofmeister. "Und ihre Zahl wächst."
"Innen warm, aber nach außen keine Ausstrahlung": Traditionelle Kirchen müssen umdenken
Außer den Einheimischen besuchen Reisende und Trucker die Kirchen an den Autobahnen. "Da kommen ganz unterschiedliche Menschen zusammen." Hofmeister sieht im Konzept der Autobahnkirchen "einen Pilotcharakter für die Kirche der Zukunft". Diese müsse mitten im Leben der Menschen sein, "am besten direkt neben der Straße, die zur Arbeit oder in den Urlaub führt". In traditionellen Kirchengemeinden herrsche oft das Thermoskannenprinzip: "innen kuschelig warm, aber nach außen keine Ausstrahlung". Das sei schlecht: "Kirche muss lernen, gastfreundlich zu sein und sich nicht abzuschotten."
Wolfram Viertelhaus sagt: "Nicht ohne Grund sind die Autobahnkirchen eine der wenigen Bewegungen in Sachen Kirche, die wachsen."