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Marktbreit/Kitzingen
Viele Schulen brauchen Jugendsozialarbeiter: "Wir haben Kinder mit sozial-emotionalem Unterstützungsbedarf"
Die Zahl auffälliger Schülerinnen und Schüler steigt. Immer mehr Schulen in Unterfranken wünschen sich Jugendsozialarbeiter. Woran liegt das?
Rund zehn Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler habe sozial-emotionalen Unterstützungsbedarf, sagt die Leiterin der Grundschule Marktbreit (Lkr. Kitzingen).
Foto: Christian Charisius, dpa (Symbolbild) | Rund zehn Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler habe sozial-emotionalen Unterstützungsbedarf, sagt die Leiterin der Grundschule Marktbreit (Lkr. Kitzingen).
Gisela Rauch
 |  aktualisiert: 15.07.2024 09:59 Uhr

Die Zweitklässlerin hat schon wieder die Hausaufgaben nicht gemacht. Weder die Rechenaufgaben noch die Diktatverbesserung hat das Mädchen dabei. Auch die Lesefibel fehlt, der Turnbeutel, sogar das Pausenbrot. Auf Nachfragen der Lehrerin zuckt die Siebenjährige nur die Achseln und duckt sich weg. Seit Wochen geht das so.

Mehrfach hat die Pädagogin versucht, die Eltern des Kindes anzurufen, aber unter der gelisteten Nummer geht nie jemand ran. Gibt es denn in der Familie des Kindes niemanden mehr, den es kümmert, was die Kleine morgens in ihre Büchertasche packt?

Es gehört nicht zu den Aufgaben der Lehrer, zu Kindern nach Hause zu fahren

Dringend müsste mal jemand zu diesem Kind nach Hause fahren, müsste mit den Eltern sprechen, um herauszufinden, was da los ist. Aber wer? Auch wenn – in Ausnahmefällen – Lehrkräfte in solchen Fällen tatsächlich mal beim Kind zu Hause klingeln, gehören Hausbesuche bei Schülereltern eigentlich nicht zu den Aufgaben einer Lehrkraft. Für diese "aufsuchende Elternarbeit" braucht es Jugendsozialarbeiter – wenn man sie denn hat.

Brigitte Ertl, Leiterin der Grundschule Marktbreit (Lkr. Kitzingen), hat in diesem Frühjahr für ihre Grundschule und die angeschlossene Mittelschule eine solche Stelle für Jugendsozialarbeit an Schulen beantragt. Wenn alles so läuft, wie die Rektorin sich das erhofft, kann die dringend benötigte Kraft im nächsten Jahr anfangen. Kann sich um einen solchen Fall wie den des Mädchens ohne Hausaufgaben kümmern – und um sehr viele dringende Fälle mehr.

Marktbreiter Rektorin: Rund zehn Prozent der Schüler mit sozial-emotionalem Hilfsbedarf

"Wir haben eine Reihe von Kindern mit sozial-emotionalem Unterstützungsbedarf", erklärt Schulleiterin Ertl. Schon vor Corona sei dies so gewesen, die Pandemie aber habe manche latent schwelenden Probleme aufgedeckt und bekannte Probleme verschärft.

Rund 280 Schülerinnen und Schüler hat die Marktbreiter Grundschule. Bei etwa zehn Prozent der Kinder sieht Rektorin Ertl mittlerweile dringenden Hilfsbedarf. Dazu gehören die stillen, verängstigten, mitgenommenen Kinder, die – so hat es Ertl erfahren – daheim vielleicht mit einem alleinerziehenden, depressiven Elternteil leben. Einem Vater etwa, der es aufgrund seiner Erkrankung nicht schafft, für das Kind da zu sein. Oder mit einer Mutter, die gerade frisch getrennt ist und leidet. Oder mit Eltern im Dauerstreit, in Scheidung, in Finanznöten.

Die Rektorin kennt Grundschüler, die so auffällig sind, dass man sie kaum unterrichten kann

Zu den Kindern mit Unterstützungsbedarf gehören auch laute, aggressive Schüler: "Kinder mit niedriger Frustrationstoleranz, mit schlechter Impulskontrolle", die hochgehen, schreien und um sich schlagen, wenn sie von einem Mitschüler nur schräg angeschaut werden.

Sie kenne Grundschulkinder, die so auffällig seien, dass man sie kaum unterrichten könne, sagt Ertl. Der erfahrenen Rektorin geht es nicht um Vorwürfe oder Schuldzuweisungen, sondern um die Notwendigkeit, dass eine Fachkraft sich der betroffenen Kinder und Familien annimmt.

Immer mehr Schulen nutzen oder wünschen Jugendsozialarbeit

War noch vor etwa zehn Jahren Jugendsozialarbeit an Schulen in Bayern auf sogenannte Brennpunktschulen beschränkt und die Bewilligung einer Stelle damals noch abhängig von einem hohen Ausländeranteil unter den Schülern, wird Jugendsozialarbeit an Schulen mittlerweile von immer mehr größeren Grund-, Mittel- oder Berufsschulen genutzt oder erwünscht.

Allein im Landkreis Kitzingen sind bisher an zwei Grundschulen in Kitzingen, an vier Mittelschulen in Volkach, Wiesentheid und Kitzingen sowie an der Berufsschule Kitzingen-Ochsenfurt Jugendsozialarbeiter im Einsatz. War der Bedarf an den Fachkräften schon vor Corona groß, ist er nach Einschätzung von Schulleiterinnen und Schulleitern durch die Pandemie nochmals gestiegen.

Bei vielen Erstklässlern fehlt das stabilisierende letzte Kindergartenjahr

"Der Bedarf ist groß und wächst", bestätigt auch Schulrat Florian Viering, Schulrat am Schulamt des Landkreises Kitzingen. Er erklärt, warum als Folge der Pandemie auffällig viele ganz junge Kinder Unterstützungsbedarf haben: "Wir sehen bei den ersten Klassen, dass das stabilisierende letzte Kindergartenjahr fehlt, das für die Sozialisierung der Kinder extrem wichtig ist."

Schon Grundschulkinder nutzen täglich viele Stunden das Handy oder Tablet. Die Pandemie mit dem Zwang zum Distanzunterricht hat den Trend verstärkt. 
Foto: Martin Schutt, dpa | Schon Grundschulkinder nutzen täglich viele Stunden das Handy oder Tablet. Die Pandemie mit dem Zwang zum Distanzunterricht hat den Trend verstärkt. 

Gleichzeitig sei in der Corona-Pandemie der Medienkonsum von Kindern, auch Vorschulkindern und jetzigen Erstklässlern, immens gestiegen. "Wir haben eine interne Umfrage gemacht und festgestellt, dass sogar viele Erstklässler als Medienzeit angeben: Zwei Stunden Fernsehen. Eine Stunde Handy. Eine Stunde Tablet. Pro Tag", sagt Viering.

Attacken über soziale Netzwerke belasten manche Schülerinnen und Schüler schwer

Auch bei älteren Schülerinnen und Schülern zeigen sich negativen Folgen intensivster Mediennutzung in der Corona-Zeit. Wenn Michael Hümmer, Leiter der Mittelschule Ochsenfurt, von belastenden Konflikten unter Schülern spricht, dann meint er nicht "die paar Prügeleien auf dem Schulhof". Prügeleien seien sichtbar, die bekämen die Lehrkräfte natürlich mit, so etwas könne meist schnell geklärt werden. Aber dass Schülerinnen und Schüler über Netzwerke wie WhatsApp oder TikTok bloßgestellt oder gemobbt würden, das ahnten oft weder die Lehrkräfte noch die Eltern.

"Man kann von jedem ein Video machen, auf dem der doof aussieht und das ins Netz stellen", erzählt eine Mittelschülerin: "Dann braucht man nur noch zu warten, dass böse Kommentare kommen und schon ist jemand ein Opfer."

Attacken über soziale Netzwerke belasteten manche Kinder schwer, bestätigt der Ochsenfurter Schulleiter. Sie führten in Einzelfällen zu Isolation und Rückzug. "Wir haben Glück, dass wir an unserer Schule mit der Jugendsozialarbeit einen Profi an der Hand haben, der die Zeit hat, sich da einzuklinken und solche Konflikte zu lösen." Gefragt nach weiteren Aufgabenschwerpunkten der Jugendsozialarbeit an der Mittelschule, nennt Hümmer familiäre Konflikte sowie Kinder mit Überforderung, Hyperaktivität oder mit Problemen bei der Persönlichkeitsentwicklung.

Hilfen durch Jugendsozialarbeit werden oft länger als ein Jahr in Anspruch genommen

Aus den Statistiken des Landkreis Kitzingen, der die Inanspruchnahme von Jugendsozialarbeit an Schulen auflistet, geht hervor, dass an den kreiseigenen Mittelschulen die Zahl der Einzelfälle gestiegen ist - von 191 im Jahr 2020 auf 202 im Jahr 2021. An den Grundschulen und Berufsschulen des Kreises ist die Zahl der Inanspruchnahmen in beiden Jahren etwa gleich geblieben, doch zeigt sich laut Auskunft der Pressestelle, dass die Hilfen länger in Anspruch genommen wurden.

Im Jahr 2021 etwa brauchten 41 Grundschüler, 129 Mittelschüler und 26 Berufsschüler länger als ein Jahr die Unterstützung und Begleitung von Jugendsozialarbeiterinnen oder Sozialarbeitern an Schulen. 

Jugendsozialarbeit in Bayern

Jugendsozialarbeit an Schulen (JaS)  ist eine Leistung der Jugendhilfe und die intensivste Form der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule. Sie soll sozial benachteiligte junge Menschen bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützen und fördern. Dadurch sollen deren Chancen auf Teilhabe und eine eigenverantwortliche sowie gemeinschaftsfähige Lebensgestaltung verbessert werden. 
Arbeitsweise: Jugendsozialarbeiter führen Einzel- und Gruppengespräche mit Schülerinnen und Schülern, beraten und unterstützen Schülereltern, arbeiten mit dem Jugendamt und anderen Diensten der Jugendhilfe zusammen und gelegentlich auch mit Polizei, Justiz, Arbeitsagenturen oder Mitarbeitern des Gesundheitswesen. 
Finanzierung: Antragsberechtigt sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sowie anerkannte Träger der freien Jugendhilfe. Der Freistaat Bayern unterstützt die Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei dieser Pflichtaufgabe nach § 13 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) auf der Grundlage einer Förderrichtlinie. Laut Staatsregierung standen im Jahreshaushalt 2021 rund 19,6 Millionen Euro für die Förderung von 1070 Vollzeitstellen der Jugendsozialhilfe an Schulen bereit. Sowohl die Grünen wie auch die SPD haben im Frühjahr dieses Jahres die Staatsregierung nach dem Bedarf an Jugendsozialarbeit gefragt.  
Zahlen: In ganz Bayern gibt es (Stand Dezember 2021) 1127 Stellen für Jugendsozialarbeit an Schulen. Weil sich oft mehrere Schulen eine Stelle teilen müssen, sind diese Stellen auf 1487 Einsatzorte verteilt. In Unterfranken gibt es rund 132 Stellen an 199 Einsatzorten. 
grr
 
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Kommentare
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  • waldemarthurn@freenet.de
    Eltern haben keine Zeit die müssen Händyspielen das ist wichtiger als das Kind .
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  • Knut_P
    Eine vergeallgemeinerung ist hier ein Schlag ins Gesicht für alle Eltern die in den Lockdowns mit der extremen doppelbelastung Job und Schule zu kämpfen hatten. Also bitte vor dem Kommentieren - Hirn einschalten.
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  • Einwohner
    Die Zahl auffälliger Eltern steigt auch.
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