Lilli Gsell setzt gerade die Tube mit Kunstblut an und schmiert sich eine Blutlinie quer über die linke Wange. Ihre rechtes Auge ist von schwarzer Farbe bedeckt, auch dort Blut. Leuchtend grüne Kontaktlinsen hat sie bereits eingesetzt. So richtig unheimlich wird es aber, als sie Haube und Kittel anlegt: die perfekte Grusel-Krankenschwester.
Großzügiger Einsatz von Kunstblut
Das Hauptquartier der Erschrecker und Erschreckerinnen im Freizeitland Geiselwind ist an diesem Freitagabend voller Menschen, die sich selbst und gegenseitig schminken. Ob sie auch Blut auf ihren Kittel geben soll, fragt Gsell in die Runde der zehn Halloween-Geister. Die einhellige Antwort: Ja! Also begleitet ihre Kollegin Ida Blättner sie nach draußen und spritzt mit einem Pinsel Kunstblut auf das Krankenschwesterkostüm.
Dann ist Blättner selbst dran. Sie ist zum ersten Mal dabei, Chef-Erschreckerin Tina Jahnel hilft daher mit dem Make-up und simuliert mit Wachs und Kunstblut eine gebrochene Nase. Auch in diesem Fall sorgt das Gesamtbild für den gewünschten Grusel-Faktor: ohne die Zwangsjacke und den Teddy würde selbst die furchtbarste Schminke nur halb so gut wirken.
Das beste Make-up zum Erschrecken ist realistisch
Trotzdem wird an letzterem nicht gespart. "Schminkt euch realistisch, umso weniger Arbeit habt ihr hinterher", empfiehlt Jahnel. Jeder Neuling, sagt sie, bekommt erst einmal eine Make-up Variante. Die wird dann so oft geübt, bis es klappt. "Man muss den Mut haben, dass auch mal was schief geht. Und wenn es schief geht: Viel Kunstblut hilft viel", sagt Jahnel, die eigentlich medizinische Fachangestellte ist und unter anderem als Sanitäterin im Freizeitland arbeitet. Sie hat sich das Schminken selbst beigebracht. Und zum Beispiel gelernt, nicht auf viel bewegten Gesichtsteilen wie der Nasenspitze Wunden aufzukleben, da das Material dann zu schnell abfällt.
Andere Effekte ergeben sich durchs Ausprobieren. Haferflocken und Latex, sagt sie fast schon begeistert, sähen zum Beispiel aus wie verbrannte Haut. Nur eins geht gar nicht: "Es setzt hier keiner eine Vollmaske auf, das geht gegen die Erschrecker-Ehre", sagt Jahnel. Und überhaupt: Einfach "Buh" rufen ist eines Profi-Erschreckers nicht würdig. "Wir versuchen zu unterhalten und Angst zu machen, das geht am besten mit Worten", sagt sie. Dann demonstriert sie, wie gruselig es ist, wenn sie ganz normal spricht und plötzlich "Hallo!" schreit. Auf einmal ist es im Erschreckerhaus ganz still. Ein lautes Organ und ein loses Mundwerk sind hier definitiv von Vorteil.
Ihre Inspiration zieht Jahnel aus einem Besuch in den USA, als sie zum ersten Mal eine Horror Maze, also ein Grusellabyrinth mit Live-Erschreckenden, sah. "Es war verdammt gruselig", sagt sie, die kaum etwas schockt, noch heute. Vor neun Jahren hatte sie dann selbst ihren ersten Einsatz als Erschreckerin, oder als Live-Erschreckerin, wie sie sagt. Was bedeutet dieser Unterschied? "Ein Erschrecker spult ab, ein Live-Erschrecker reagiert auf das, was passiert", erklärt Jahnel. Man könne zum Beispiel den Namen des Gastes am Eingang aufschnappen und in seine Performance einbauen. "Seid laut, macht Geräusche, seid kreativ, was die Wortwahl angeht", ist Jahnels Empfehlung für gelungenen Grusel.
Drei Gruselattraktionen im Freizeitland
Als es draußen langsam dunkel wird, verlassen die fertig geschminkten und kostümierten Laienschauspieler und -schauspielerinnen nach und nach ihr Hauptquartier und machen sich auf den Weg zu ihren Einsatzorten. Das sind drei Attraktionen: die "Flub Street", in der verrückte Horrorclowns ihr Unwesen treiben, das Haus "Fluch des Ramses" und das Horrorlazarett, das ganzjährig als Geisterhaus dient. Nun hat Jahnel Zeit, sich selbst zu schminken. "Das größte Lob für einen Erschrecker ist es, wenn man es schafft, einen Gast zum Umdrehen zu bewegen", erzählt sie.
Es muss sich jedoch niemand sorgen: Die Halloweengeister sind alle über Funkgeräte verbunden. Falls etwas schief geht, verlassen die Erschreckenden ihre Rollen, sprechen den Gast freundlich an und beruhigen ihn oder sie. Und dann wäre da noch der Eigenschutz. "Man entwickelt mit der Zeit ein Gespür dafür", sagt Jahnel. Neuen Spukenden empfiehlt sie, mindestens eine Armlänge Abstand von den Besuchenden zu halten.
Heiratsantrag im Horrorlazarett
Die Regel gibt es nicht ohne Grund: Tina Jahnel verlor einmal einen Zahn, als sich ein Besucher so sehr erschreckte, dass er mit der Glasflasche ausholte. Der Eingang war zu diesem Zeitpunkt nicht besetzt, sonst hätte er die Flasche natürlich gar nicht mitnehmen dürfen. "Ich müsste mal ein Buch darüber schreiben, was man hier erlebt", sagt sie: vom Heiratsantrag im Horrorlabyrinth bis zum Vater, der seinen Kindern mit dem Aufenthalt im Erziehungslager im Geisterhaus droht. Ein Erschrecker fand im Team die große Liebe und ist jetzt mit seiner Gruselkollegin verlobt.
Während sie von Erschreckerehre und nervösen Gästen spricht, schminkt sich Jahnel selbst. Sie hat sich für ein Clownskostüm entschieden, klebt sich Popcorn ins Gesicht und modelliert blutige Wunden. Dann sind die Kontaktlinsen dran. "Das ist mein Ritual", sagt sie. "Wenn ich die Kontaktlinsen drin habe, bin ich nicht mehr ich, dann bin ich meine Rolle."
Spooky Nights im Gruselland Geiselwind
Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde zum ersten Mal an Halloween 2021 veröffentlicht. Doch die Erschrecker-Regeln sind in jedem Jahr gleich.