Sie liebt das Meer. Und sie hat jeden Tag einen Berg abgeschnittener Haare übrig. Was das miteinander zu tun hat? Tine Bilke, 45-jährige Saloninhaberin, erzählt von einem "genialen Projekt", dem sie sich voller Begeisterung angeschlossen hat: Bei "Hair help the Oceans" werden aus menschlichen Haarresten Öl- und Fettfilter für Gewässer.
Haare besitzen eine interessante Eigenschaft: Sie können Fett aufsaugen. "Deswegen kann man sie super als natürliches Reinigungsmittel gegen Verschmutzungen wie Öl, Benzin und Sonnenmilchreste in Gewässern verwenden – egal ob im Meer, in Flüssen oder Seen", erklärt Tine Bilke. "Sie müssen nur frisch gewaschen sein."
Seit November 2022 wirft die Rödelseerin die abgeschnittenen Haare, die in ihrem Salon "Haarschneiderei" in Iphofen täglich anfallen, nicht mehr einfach in den Restmüll, sondern sammelt sie. Dass man aus ihnen Öl- und Fettfilter für Gewässer machen kann, erfuhr Tine Bilke bei der Friseurmesse im vergangenen Oktober in Erfurt.
Dort hielt Emidio Gaudioso, Frontmann der Organisation "Hair help the Oceans", einen Vortrag über seine Initiative. Gaudioso ist Inhaber des Salons Emidio Xsesso Hair in Bückeberg – und ein umtriebiger Mann, dem der Umweltschutz am Herzen liegt. Zusammen mit dem Würzburger Unternehmensberater Thomas Keitel gründete er 2022 offiziell "Hair help the Oceans". Doch schon Jahre zuvor hatte ihn das Thema gepackt.
Tonnenweise Haarreste könnten die Gewässer säubern
"Jährlich werden tonnenweise Haarreste von rund 83.000 Friseursalons in Deutschland im Restmüll entsorgt", sagt Gaudioso in einem Telefonat mit dieser Redaktion. "Die Frage, ob die abgeschnittenen Haare noch für etwas gut sind, war immer präsent." Eines Tages entdeckte er Haarfilter, die der französische Verein "Coiffeure Justes“ – übersetzt etwa "faire Friseure" – produzierte. Der Verein füllte Haare in alte Nylonstrümpfe, band diese zu Rollen und setzte sie als Filter in verschmutzten Gewässern ein.
"Ich dachte, so etwas könnten wir in Deutschland auch machen." Emidio Gaudioso recherchierte und fand heraus: "Ein Kilogramm Haar kann bis zu acht Kilogramm Öl aus dem Wasser ziehen." Der Friseurmeister mit italienischen Wurzeln tüftelte, bastelte, verwarf, testete, optimierte. Mittlerweile sind er und sein Team in Bückeburg dabei, eine Maschine zu entwickeln, die das Haar in die Schläuche stopft – bisher geschah das in reiner Handarbeit. "Mit meinem Sohn Amadeo habe ich jetzt den vierten Prototypen produziert", berichtet der 57-Jährige.
Seine Initiative stieß im Lauf der Zeit auf immer mehr Resonanz, auch die FH Magdeburg mit Professor Jürgen Wiese interessierte sich dafür und begleitete die Aktion fortan wissenschaftlich. Aus der privaten Initiative wurde eine Unternehmergesellschaft (UG), die so funktioniert: Jeder teilnehmende Salon zahlt 25 Euro pro Monat, die gesammelten Haare werden alle paar Wochen abgeholt. "Mit den Beiträgen der Mitglieder können wir Innovationen bezahlen und auch die Lagerkosten. Über 3000 Pakete warten derzeit auf die Verarbeitung", erklärt Gaudioso.
1400 Friseur-Salons in fünf Ländern machen mit
Mittlerweile beteiligen sich über 1400 Salons in fünf Ländern – in Deutschland, Österreich, der Schweiz, den Niederlanden und in Luxemburg – am Projekt. "Wir sind dabei, mit deutschen Unternehmen zusammenzuarbeiten, um auch in Deutschland und den angrenzenden Ländern eine nachhaltige Logistik zu etablieren."
Auch entwickeln Gaudioso und sein Team Öl-Absorptionsfilter für die Kanalisation. "Wir bleiben nicht stehen; wir entwickeln uns immer weiter." Nachhaltigkeit und Fairness sollen immer die wichtigsten Kriterien bleiben, sagt der Gründer, der gerne insbesondere Langzeitarbeitslose einstellen und ihnen eine Chance und Perspektive geben möchte.
"Ich hätte nie gedacht, dass das Projekt solche Wellen schlagen würde", stellt der 57-Jährige fest. "Aber es macht mich sehr glücklich. Denn leben wir nicht in einer Zeit, in der wir alle ein bisschen wacher werden und uns fragen müssen, was machen wir mit unserer Welt?" Nur gemeinsam könne man die Welt schöner und besser machen – "jeder auf seine Art und Weise".
Tine Bilke sieht das genauso. "Ich habe nach der Messe eine Mail an die Organisation geschickt und bekam die gewünschten Unterlagen zugeschickt. Seit November sammle ich nun die abgeschnittenen Haare. Etwa alle acht, neun Wochen holt die Organisation die Tüten ab."
Damit das Meer ein Auftank-Ort bleibt
Was für die Friseurin zählt, ist: "Die Filter entstehen quasi aus Abfall – ich hätte die Haare ja sonst weggeworfen. Sie können überall zum Einsatz kommen, wo Benzin oder Motoröl ausgelaufen ist oder wo Sonnencreme einen See verschmutzt, wo Motorboote ankern und tanken. Und eben auch an Badestränden." Dort also, wo Tine Bilke sich besonders gern aufhält. "Ich laufe im Urlaub über den Strand und kriege Gänsehaut. Das Meer ist für mich ein Auftank-Ort." Damit das so bleibt, werden die Haarreste in ihrem Salon nun unter anderem zu Meeresreinigern.
Bilkes Kunden finden das super. Aktuell hat Jennifer Kurtze auf dem Friseurstuhl Platz genommen. Sie freut sich, dass ihre Freundin Tine, die sie seit Kindertagen kennt, ihr nicht nur eine neue Frisur verpasst, sondern die abgeschnittenen Haarsträhnen auch gleich für einen guten Zweck zur Verfügung stellt. "Wenn man weiß, der Friseurbesuch tut nicht nur einem selbst gut, sondern auch noch der Umwelt, ist das doppelt spitze", finde die 42-Jährige.
"Übrigens ist es egal, wie viel man abschneidet", stellt Tine Bilke fest. "Auch Haare, die nur ein paar Millimeter kurz sind, können in den Filtern verwendet werden." Sie und Jenny Kurtz sind sich einig: "Umweltschutz kann so einfach sein!" Und selten habe der Begriff "nachwachsende Rohstoffe" so gut gepasst wie bei Haaren, die das Meer säubern helfen.