Man hat schon von Flugzeugentführungen gehört, die mit einer Tragödie endeten. In einem US-Thriller der 1970er-Jahre wurde mal eine U-Bahn samt Fahrgästen gekidnappt und eine Million Dollar Lösegeld erpresst. Aber als Einzelner ein Passagierschiff zu kapern und Hunderte Passagiere als Geiseln zu nehmen, das hat etwas Tollkühnes.
"River Queen" heißt der Dampfer und das gleichnamige Musical, das Anfang Juli am Egbert-Gymnasium Münsterschwarzach (EGM) Premiere feiert – und wie der darin verarbeitete Stoff ist auch die Geschichte hinter diesem Musiktheater alles andere als gewöhnlich.
Ein Vormittag Ende Mai. Noch sind Pfingstferien, aber die frisch renovierte Aula steckt bereits voller Leben. Auf der Bühne: ein Dutzend Schülerinnen und Schüler. "Wir starten mit der vierten Szene im dritten Akt. Alle auf Position!", befiehlt Anna Lußem, die vorne in der ersten Reihe mit dem Drehbuch steht. Eine aufgekratzte Menge singt vom "starken Moment". Immer wieder setzen die jungen Leute an. Dann, nach dem x-ten Anlauf an diesem Morgen, ruft Lußem, Lehrerin für Deutsch und Latein am EGM: "Gut, sehr schön. Sieht richtig gut aus." In gut einem Monat muss alles passen. Am 3. Juli ist Premiere.
"River Queen" birgt mehr als 20 selbst komponierte Lieder
Drei Monate vorher sitzt Markus Binzenhöfer zwei Stockwerke höher in seinem Ausweichbüro. Die Generalsanierung des Egbert-Gymnasiums geht in ihre letzte Phase, und noch ist nicht ganz sicher, ob die Aula rechtzeitig fertig wird. Binzenhöfer ist der Mann hinter dem Musical. Er hat das Libretto geschrieben, sämtliche Texte und fast alle der zwei Dutzend Lieder in dem Stück. Dass man heute stolz sagen kann, Musical-Aufführungen haben Tradition an der Schule, ist ihm zu verdanken. "Moses" (2005), "Salto Mortale" (2009), "Mr. Mephisto und der arme Tor" (2014), zuletzt "Sternenbote" (2017) – alle diese Stücke stammen aus seiner Feder. Seit Herbst 2019 ist Binzenhöfer auch Direktor der Schule. Woher nimmt der Mann die Kraft und die Zeit für ein so monumentales Werk?
2022 hat der Deutschlehrer "Patricia Rocket" zur Geburt verholfen; eine starke, emanzipierte Frau, alleinerziehende Mutter einer Tochter. Im Amerika der 1950er-Jahre fällt es einer wie ihr nicht leicht, aus ihrer gesellschaftlichen Rolle auszubrechen. Doch sie hat es geschafft, ist Kapitänin auf der "River Queen". "Ich bin eine Frau und kein Dummkopf, kein Opfer, oh nein", singt sie. Und sie ist glücklich, ganz "ohne Alphatier", und überzeugt, dass auch ihre Tochter "Sue" keinen Mann braucht. Tagein, tagaus schippert sie den Mississippi rauf und runter, Memphis, Greenville, New Orleans, Südstaaten-Romantik.
Diese Fahrt auf der "River Queen" verläuft anders als sonst
Doch diese Fahrt verläuft anders. "Das hier wird groß", prophezeit "Geoffrey", der Schiffsjunge. Und schon findet man sich mitten in einem wilden Abenteuer mit Knalleffekt, einem Schuss Liebe – und manch Ironie des Schicksals. Da ist etwa "Neill", ein ehemaliger Broadway-Star, der genug hat vom verlogenen Showgeschäft und nur noch aussteigen möchte. Kein Leben nach der Uhr mehr. "Lange genug war ich Knecht." Aber dann tickt doch wieder der Wecker. Turbulente 24 Stunden mit Magiern, Akrobaten und atemraubender Dramaturgie, im Theater verdichtet auf drei Akte und bewegende 120 Minuten.
Stilsicher schafft es Binzenhöfer, nicht nur ein dramaturgisch fein austariertes Schauspiel auf die Bühne zu bringen und mit Fragen der Zeit zu verknüpfen (Wer ist ein Held? Wie löst man Krisen?), sondern dieses auch mit verträumter Live-Musik zu kolorieren. Klavier, Streicher, Bläser, Schlagzeuger, sie alle zwängen sich in den schmalen Bühnengraben, um das mal leise, mal laute Geschehen auf der Bühne effektvoll zu orchestrieren. Fragt man ihn nach der Quelle seiner Inspiration, um ein Werk wie dieses zu schaffen, dann sagt er: "Viele Einfälle kommen mir beim Joggen."
Schon als Schüler stellte er mit Erstaunen fest, "was Musik für ein Theaterstück zu leisten vermag". Was damals in ihm schlummerte, perfektionierte er im Laufe der Jahre. Erst denkt er sich Story und Handlung aus, dann legt er die Musik darüber. Bei den Proben steht er mit dem Taktstock unten im Orchestergraben und wacht selbstvergessen über den Flow. Eines der Lieder stammt von Anne Krämer, einer Zwölftklässlerin.
Viele der Beteiligten steckten bis zuletzt im Abitur-Stress
Auch diesmal kam es Binzenhöfer darauf an, allen Mitwirkenden eine Stimme zu geben und das komplette Stück den einzelnen Charakteren auf den Leib zu schreiben, nicht etwa umgekehrt. Rund 60 Schülerinnen und Schüler sind in das Projekt eingebunden, und die meisten von ihnen steckten bis vor Kurzem noch mitten im Abiturstress. Wie Lena Till. Sie spielt den Schiffsjungen "Geoffrey" und sagt: "Am Tag nach der Probe hatte ich Mathe-Abi."
Mit Theater kennt Lena sich aus, sie spielt seit der fünften Klasse. Doch ein Musical zu performen, auf der Bühne zu singen, das ist noch einmal eine ganz andere Nummer und "neu für mich". Aufgeregter als sonst ist sie trotzdem nicht. "Lampenfieber habe ich nur, bis es losgeht. Sobald das Licht auf der Bühne angeht, ist es weg."
Noch wirkt vieles improvisiert, die heiße Probenphase hat gerade erst begonnen. "Ich möchte Begeisterung in euren Gesichtern sehen", ruft Anna Lußem der Crew auf der Bühne zu. Und die gibt noch einmal alles – inklusive musikalischen Rat an alle Verzweifelten: "Hast du den starken Moment, dann greif zu. Es bist du, für den heute er brennt."
Premiere von "River Queen" ist am Mittwoch, 3. Juli, 19.30 Uhr im Theatersaal des Egbert-Gymnasiums Münsterschwarzach. Weitere Aufführungen sind am 5. und 6. Juli (jeweils 19.30 Uhr), 7. Juli (18 Uhr), 12. Juli (19.30 Uhr) und 14. Juli (18 Uhr).
Karten können ab sofort unter Tel. (09324) 20-260 im Sekretariat der Schule reserviert und dort zu den üblichen Bürozeiten abgeholt werden. Erwachsene zahlen 9 Euro, Schüler 5 Euro.