Wunibald Müller ist ein Mann deutlicher Worte. Seit Jahren äußert sich der promovierte Theologe und psychologische Psychotherapeut offen über Themen, über die die römisch-katholische Kirche lieber den Mantel des Schweigens legen würde: über Homosexualität, Missbrauch, Frauenpriestertum, Zölibat.
Wunibald Müller weiß, wovon er spricht. Der 64-Jährige, der in Buchen im Odenwald aufwuchs, hat tiefe Einblicke in das seelische Befinden von Priestern, Ordensleuten und kirchlichen Mitarbeitern. Er unterstützt sie in Krisensituationen, wenn sie erschöpft sind, wenn sie an ihrer Entscheidung zweifeln. „Wir begleiten sie bei ihrem Ringen, für sich ihre Wahrheit herauszufinden, und bei der Suche nach dem, was Gott für sie vorgesehen hat.“ So beschrieb Müller anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Recollectio-Hauses (vom Lateinischen recolligo: wieder sammeln) der Abtei Münsterschwarzach im Landkreis Kitzingen seine Arbeit. Wer ins Recollectio-Haus kommt, benötigt selbst Seelsorge.
Die Einrichtung ist mittlerweile 24 Jahre alt und bis heute bundesweit einzigartig. Sie wird von den Diözesen Augsburg, Freiburg, Limburg, Mainz, München und Freising, Paderborn, Rottenburg-Stuttgart und Würzburg finanziell mitgetragen. Zum Team gehören geistliche Begleiter, Psychotherapeuten und Ärzte. Müller leitet das Recollectio-Haus von Beginn an zusammen mit Pater Anselm Grün. Immer wieder rüttelte er in dieser Zeit mit seinen Analysen an den Grundfesten der Amtskirche. Zum Einsturz bringen will er sie aber nicht. Im Gegenteil. Er liebt seine Kirche, bekennt Wunibald Müller in seinem offenen Brief an Papst Franziskus (siehe unten stehenden Text).
Bereits zum zweiten Mal schreibt der Theologe an das kirchliche Oberhaupt in Rom und bittet erneut um die Lockerung des Zölibats. Der Grund: „Nach wie vor führt die vorhandene Tabuisierung im Bereich der Liebe, der Intimität und Sexualität im Zusammenhang mit dem Zölibat dazu, dass die Kluft zwischen dem, was Priester nach außen hin vorgeben zu leben und dem, was wirklich ihre Überzeugung ist und im Verborgenen gelebt wird, immer größer wird.“ Es würde dadurch viel Energie verbraucht, viel Kraft verschlissen, Energie und Kraft, die sie für ihren Dienst verwenden könnten. „Dazu kommt, dass die im Verborgenen praktizierte Sexualität und Intimität das zölibatäre Leben eher verdunkeln und in Misskredit bringen, ganz abgesehen davon, dass daraus ein ernstes Glaubwürdigkeitsproblem für die Kirche erwächst“, sagt Müller im Gespräch mit dieser Redaktion.
Er fordert nicht die Abschaffung des Zölibats. Sie sei ein viel zu hohes Gut. Müller möchte Wahlfreiheit. Es sei eine Bereicherung für die Priesterschaft, „wenn neben Unverheirateten auch Verheiratete möglich wären“. Dann könnte das Thema Sexualität und Intimität viel selbstverständlicher zur Sprache kommen und gelebt werden.
Darüber hinaus regt Müller weitere notwendige innerkirchliche Auseinandersetzungen an über Probleme, „denen wir in unserer Arbeit im Recollectio-Haus alltäglich begegnen“. Immer wieder lenkt er den Blick auf Homosexuelle. „Sie sind in der Mehrzahl ausgezeichnete Priester, auf die wir in der Kirche gar nicht verzichten können.“ Und nach wie vor ist der Theologe dafür, dass Frauen zum Priesteramt zugelassen werden, „auch wenn Papst Franziskus meint, dass diese Tür durch seine Vorgänger geschlossen worden sei. Doch die Tür, die ein Papst schließt, kann durch einen Papst auch wieder geöffnet werden.“
Müller ist jedoch realistisch. „Der Weg dahin ist noch weit“, sagt er auch in Bezug auf die Lockerung des Zölibats. Aber es sei dafür allerhöchste Zeit – um Gottes, der Gläubigen und der Priester willen. „Ich bin überzeugt davon, dass ich dies noch erleben werde.“
Lieber Papst Franziskus!
Ich hatte Sie vor über einem Jahr inständig darum gebeten, den Priestern freizustellen, ob sie zölibatär leben oder heiraten wollen und daraufhin viele positive Reaktionen erhalten. Sie, Franziskus, antworteten mir indirekt darauf, indem Sie meine Formulierung, die Tür dafür ist offen, aufgriffen und meinten, dass zunächst wichtigere Themen in der Kirche anstehen. Das mag sein.
Allein: Als einer, der um die Not der Priester weiß, die in heimlichen Beziehungen leben, die zerrissen werden zwischen ihrer Liebe zu ihrem Dienst und der Liebe zu einer Frau, erwarte ich, dass ihre Situation ernst genommen wird. Dazu kommt, dass viele junge Männer erst gar nicht wegen des Zölibatsversprechens den Priesterberuf ergreifen. Andere wieder – und die Anzahl derer, die das tun, nimmt nach meiner Einschätzung zu – sehen für sich keinen anderen Ausweg als den Beruf des Priesters aufzugeben, weil sie nicht ohne eine Partnerin leben möchten.
Hier bedarf es eines Befreiungsschlages. Die Zeit dafür ist reif. Die Mehrzahl der Gläubigen kann sich einen verheirateten Priester gut vorstellen. Auch viele Bischöfe können es sich inzwischen gut vorstellen, manche unter ihnen wünschen es sich sogar. Denn auch für sie ist es eine schmerzliche Erfahrung, wenn gute Priester die Entscheidung treffen, den Priesterberuf aufzugeben.
Lieber Papst Franziskus, ich schätze Sie sehr. Sie haben gerade das Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen. Damit Barmherzigkeit aber nicht nur ein Wort bleibt, genügen Gesten nicht, sondern es braucht Taten. Wenn die katholische Kirche, wenn Sie als Papst die Tür öffnen, die zur Entkopplung vom Priestertum und Zölibat führt, ist das auch ein Akt der Barmherzigkeit. Die Kirche erbarmt sich der Priester, die in Beziehungen leben und nicht länger der Zerreißprobe ausgesetzt sind, sich entweder für das Amt oder die Frau, die sie lieben, oder für eine heimliche Beziehung zu entscheiden.
Ich bitte Sie inständig hier zu tun, was das Gebot der Stunde ist. Ich bitte Sie darum, weil ich wie Sie meine Kirche liebe. Ich habe eine hohe Achtung vor Menschen, die ihr Zölibat glaubwürdig leben; zugleich bin ich aber zutiefst davon überzeugt, dass es der katholischen Kirche zum Segen gereichen wird, wenn Sie die Türe öffnen, die zu einer Entkoppelung von Priesteramt und Zölibat führt. Haben Sie den Mut dazu, diese Türe zu öffnen.
In brüderlicher Verbundenheit
Ihr Wunibald Müller