Den Straßenrand in Rüdenhausen säumen kleine Papierfahnen. Abwechselnd rot-weiß, rot-blau. Es ist ein besonderer Tag in dem sonst so idyllischen 900-Seelen-Dorf. Die Menschen, die an diesem Samstagmittag unterwegs sind, kommen aus allen Straßen und laufen in eine Richtung. Denn sie alle sind Gäste auf Einladung von Otto Fürst zu Castell-Rüdenhausen und seiner frisch vermählten Ehefrau Sophia. Zusammen feiern sie den Einzug ins Schloss, die sogenannte Heimführung der Braut.
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Es ist eine Tradition, die mindestens seit dem 19. Jahrhundert besteht. Und Traditionen werden in Rüdenhausen geschätzt und gepflegt. "Wir halten es für unsere Verpflichtung, euch und Ihnen die Frau unseres Familienchefs in würdigem Rahmen vorzustellen", sagt Manto Graf zu Castell-Rüdenhausen zur Begrüßung im Schlosspark. Zuvor zog das Brautpaar mit allen 15 aktiven Vereinen in einem Festzug von der Fürstlich Castell’schen Meierei zum Schloss. Auf halbem Weg trugen sie sich ins Goldene Buch der Gemeinde ein.
Ein persönlicher Umgang auf Augenhöhe
Doch wie ist es als Rüdenhäuser überhaupt, in einem kleinen Dorf mit einer Fürstenfamilie zu leben? Egon Meinlschmidt erinnert sich an unzählige Abende in Lokalen, an denen er mit Mitgliedern der Fürstenfamilie zusammensaß. "Wir haben zusammen getrunken und Witze gemacht", sagt er. Der Umgang sei immer auf Augenhöhe gewesen, nie von oben herab. "Mit der Rüdenhäuser Fürstenfamilie kannst du Pferde stehlen – von jeder Koppel."
Diese Nahbarkeit hat sich auch in der Sprache niedergeschlagen. Früher sei es ganz normal gewesen, den Fürst und die Fürstin mit Durchlaucht oder Erlaucht anzusprechen, erinnert sich Elfriede Sinn an ihre Jugend. Dennoch habe die Familie nicht einfach ihr Leben im Schloss gelebt; sie sei stets interessiert am Dorfgeschehen. Sinn erzählt von Ottos Großvater, der oft auf dem Pferd angeritten kam und schon von weitem den Hut gezogen und gewunken hat.
Zur Heimführung, die einem Dorffest gleicht, kommen viele ältere Gäste in den Schlosspark, aber auch Familien mit kleinen Kindern. Junge Leute sind in der Unterzahl. Einer von ihnen ist Stefan Steinberger. Er ist Vorsitzender der Burschenschaft und fühlt sich mit der Vergangenheit verbunden. Warum er sich als junger Mensch für diese Traditionen einsetzt? "Dadurch, dass es heute eher selten ist, ist es für mich erhaltenswert. Es wäre schade, wenn das untergehen würde."
Ebenfalls zur Tradition gehört die Bürgerwehr, die im vergangenen Jahr 400-jähriges Bestehen feierte. Bürgerhauptmann Leonhard Neubert ist stolz darauf, eine Fürstenfamilie im Dorf zu haben. Für ihn und seine Männer ist der Kirchweihdienstag im Schlossgarten "der höchste Feiertag". Auch weil die Fürstenfamilie daran teilnimmt.
Für Neu-Bürger sind Traditionen eher untergeordnet
Ist das auch ein Grund für Neubürger, sich in Rüdenhausen niederzulassen? "Meiner Einschätzung nach spielt es eine untergeordnete Rolle. Es sind wohl eher die günstigen Bauplätze dafür ausschlaggebend", sagt Bürgermeister Gerhard Ackermann.
Andrea Bergmann ist Neu-Rüdenhäuserin. Sie lebt mit ihrem Mann, einem gebürtigen Rüdenhäuser, im Dorf. Für sie ist die Tradition dort etwas Besonderes, die sie aus ihrer Heimat in der Rhön so nicht kennt. Mit der Fürstenfamilie kam sie bereits in Kontakt. Die 32-Jährige erinnert sich an einen Abend an der Kirchweih, an dem sie bei einem Bekannten im Garten saß. Auch Otto zu Castell-Rüdenhausen war zu Gast. Sie unterhielten sich kurz, man stellte sich mit Vornamen vor. "Es war ein sehr lockerer Umgang", erzählt sie.
Die Rüdenhäuser feiern gerne, auch mit der Fürstenfamilie. Doch es sind nicht nur die schönen Festivitäten, zu denen der Großteil des Dorfes seine Zuneigung zum Schloss zeigt. Es herrsche eine starke Verbundenheit zwischen Schloss und Dorf, mit einer ganz herzlichen Anteilnahme aneinander, weiß Pfarrer Martin Fromm. Dies habe sich gezeigt, als man von Schlossherren Abschied nehmen musste. "Sie waren persönlich gemochte Menschen", sagt Fromm über die Verstorbenen. Besonders ist ihm die Trauerfeier von Siegfried zu Castell-Rüdenhausen im Gedächtnis geblieben, bei der Fromm selbst erst kurz im Amt war. "Ich hatte den Eindruck, er war der Vater des Dorfes."
Was für alle Rüdenhäuser normal ist, scheint längst nicht selbstverständlich zu sein. In anderen Fürstenhäusern – auch in der Umgebung –, so erzählen es Gäste, sei der Umgang mit den Bürgern ein anderer. Für den frisch vermählten Schlossherrn selbst ist die Beziehung zu seinem Dorf wichtig. Nicht zuletzt deshalb lud er alle Bürger zum Feiern ein. "Ich finde es schön, dass sich alle mit uns freuen", sagt er. Und seine Frau Sophia ist begeistert von der neuen Heimat: "Ich mag es hier irrsinnig gerne – die Leute und die Herzlichkeit."