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Königsberg
So denkt Wissenschaftler Claus Tully aus Königsberg über das Thema Konsum und Nachhaltigkeit
Der 74-Jährige ist Professor für Soziologie. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie kommende Generationen lebenswert leben können. Und was jetzt besser laufen müsste.
Professor Dr. Claus Tully sieht die Politik in der Pflicht, den Konsum in einem vernünftigen Rahmen zu halten. 
Foto: Wolfgang Aull | Professor Dr. Claus Tully sieht die Politik in der Pflicht, den Konsum in einem vernünftigen Rahmen zu halten. 
Wolfgang Aull
 |  aktualisiert: 13.10.2024 02:29 Uhr

Bedingungs- oder grenzenlosen Konsum darf es nicht geben. Die Politik sei in der Pflicht, Konsum in einem verträglichen Rahmen zu halten. Sie müsse die Nachhaltigkeit kontrollieren, soziale, ökonomische und ökologische Regeln setzen. Sprich garantieren, dass der Mensch heute so lebt, dass auch künftige Generationen leben können. Das fordert der Wissenschaftler Claus Tully, der in Königsberg lebt. Der 74-jährige Professor war lange Zeit in der Jugendforschung aktiv, kürzlich hat er einen Vortrag in Haßfurt zum Thema "Fast Fashion: Das Dilemma von Konsum und Nachhaltigkeit" gehalten. Die Redaktion hat mit ihm gesprochen. 

Herr Tully, Sie sind Wirtschaftsingenieur, Volkswirtschaftler und Soziologe. Dies sind ja drei durchaus unterschiedliche Wissenschaftsbereiche. Wofür schlägt Ihr Herz denn im Innersten?

Mir ist es wichtig, dass das Zusammenleben gelingt. Das Leben von heute soll auch künftigen Generationen ein Leben ermöglichen. Dazu gehören eine brauchbare Umwelt, also der Erhalt unseres Lebensraumes, und ein kooperatives gesellschaftliches soziales Gefüge. Vieles ist im Umbruch, nicht immer zum Besseren. Die Erhaltung der Umwelt, wir nennen es Nachhaltigkeit, ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Nachhaltigkeit ist der Schlüsselbegriff, der die sozialen, ökonomischen und ökologischen Belange im Auge hat.

Wo ist das Problem?

Wenn das Bruttoinlandsprodukt nicht wächst, sind wir in der Krise. Daher wird der Konsum beständig gefördert. Problematisch kann es werden, wenn wir im Dienste der Ökonomie, also im Dienst der Wirtschaft, konsumieren, aber dann nicht auf die Nebenwirkungen achten.

In wiefern?

Jeder Mensch hat Bedürfnisse, die zu Konsum führen. Drei unterschiedliche Arten von Konsum kennen wir: Die erste Konsumart befriedigt echte Bedürfnisse: Essen, Heizen, Wohnen. Ein Beispiel: Kleidung hat die Aufgabe, zu schützen und zu wärmen, ein guter Pullover wärmt. Unser Überlebenswille bestimmt die erste Konsumart. Es folgt der demonstrative Konsum: Gezeigt wird, was kann man sich leisten, und auch der eigene Geschmack. Der Besitz eines speziellen Autos, oder auch, um bei dem Beispiel zu bleiben, eines Pullovers in der aktuellen Modefarbe mit dem Logo angesagter Hersteller. Dieser Konsum dient dazu, den gesellschaftlichen Status zu manifestieren und folgt bevorzugt der Mode. Zum Dritten der kompensatorische Konsum: Mir geht es schlecht, ich esse Schokolade. Oder ich gehe zum Shopping. Kaufe ein, nur der Ablenkung wegen. In diesen Fällen hat der Konsum unser Leben im Griff.

"Dass Werbung lügt, weiß jeder. Doch wir wollen ihr glauben."
Claus Tully, Wissenschaftler aus Königsberg
Der Konsument als Handlanger des Wirtschaftswachstums?

Wenn Sie bedürfnisfrei sind, ist alles vorhanden. Im Interesse des Wirtschaftswachstums müssen Bedürfnisse geweckt werden. Und befriedigt. Technisch sind wir heute in der Lage, Güter an Mann und Frau heranzutragen, wie es früher undenkbar war. Die Güter kommen von weit weg, sie sind technisch geschickt hergestellt. Und es kommt noch was hinzu, jede Infosuche befördert Kaufanreize. Ein Beispiel: "Wann fährt der Zug ab?" Der Blick auf das Handy bedient schon drei Werbeflächen. Mit großem Erfolg: Früher hatten wir in unserem Haushalt ein bis zwei gute Messer, heute sind es viele, deutliche über zehn. In der modernen Gesellschaft haben wir viele Artefakte, viele gemachte Dinge.

Über Plattformen lässt sich jeder Mist verkaufen. Dass Werbung lügt, weiß jeder. Doch wir wollen ihr glauben. Die Werbung verspricht, eine Creme diene der ewigen Jugend und wird gekauft. Obwohl uns bewusst ist, dass es so etwas nicht geben kann. Es sind die Versprechen, denen gerne Glauben geschenkt wird.

Ständig werden wir umspült von Werbung, falschen Versprechen. Früher wurde Kleidung aus natürlichen Stoffen hergestellt, heute, wenn es billiger wird, dann ist der Anteil von Plastik hoch. Nicht einmal mehr für Putzlappen taugen viele Kleidungsstücke aus der Fast Fashion Szene. Gekauft wird Abfall.

Wie konnte es soweit kommen?

Unser Konsumverhalten folgt der Logik des Wirtschaftswachstums. Die Technik ermöglicht, die Produktion und Verteilung weltweit zu organisieren. Die Wirtschaft produziert, die Politik fördert, und Konsumenten kaufen. Sachen werden an Mann und Frau herangetragen, wie es früher unmöglich war. Heute kaufen, später bezahlen. Die Geldströme fließen. Jeder Kaufklick dient dem Geschäftsgang. Wir wollen es gar nicht so genau wissen: Wenn in China leichtfertig mit giftigen Stoffen umgegangen wird, in Indien Arbeiter mit bloßen Füßen in ätzenden Flüssigkeiten herumlaufen. In einer Welt, des ‚Second Hand‘ des Internets, wo alles künstlich ist, wächst die Gleichgültigkeit. Die Leistung der Industrie ist es, Natur in ein technisches Ding zu verwandeln. Die Gen-Tomate ist, stellvertretend für viele Lebensmittel, ein technisches Produkt.

Sind wir gefangen in einer globalen Welt des Handels?

Tatsächlich wird der globale Geldbeutel immer mächtiger. Bestellen können wir rund um die Uhr, überall auf der Welt. Per Klick. Paypal: "Zwei Prozent gehören uns." Elon Musk ist vermögender als Griechenland und hat entsprechend mehr Einfluss. Die Sache läuft tendenziell aus dem Ruder, weil wenig regional produziert und gesteuert wird.

Fassen wir zusammen: Wirtschaftswachstum nimmt uns in den Würgegriff. Und wir spielen mit. Warum? Gibt es eine Konsumsucht?

Sucht bedeutet, dass Verhalten nicht mehr gesteuert werden kann. Spielwetten beim Sport sind ein Beispiel: Es wird nicht mehr Fußball geschaut, sondern auf abseitiges Zeug gewettet: die aktuelle Haarfarbe eines Ersatzspielers zum Beispiel. Man kann in der modernen Welt offenkundig Unsinn zu einem Geschäft machen; andererseits sind die Suchtkliniken voll. Konsumfreie Zonen gibt es immer weniger.

Das klingt ja nach großem Handlungsbedarf. Was muss sich ändern?

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist wirkmächtig. Doch ist das BIP nicht das Grundgesetz. Die Politik ist in der Pflicht, Konsum in einem verträglichen Rahmen zu halten. Sie muss die Nachhaltigkeit kontrollieren, soziale, ökonomische und ökologische Regeln setzen. Maßstab ist die Generationengerechtigkeit, das "Gemeinsame Haus", wie Papst Franziskus es in seiner Enzyklika formuliert. Die Güterproduktion soll nicht zu Lasten der Würde von Menschen und der Umwelt gehen. Der Einfluß von Lobbyisten muß gestoppt werden. Objektive Schädigungen muß Gegenstand politischen Alltags werden. Ich denke da an "Fast Fashion". Oder auch gesundheitsproblematische Zusätze in Kunststoffen.

Lobbyisten würden gerne die Verantwortung auf die Endverbraucher abschieben. Mit der Formel vom ökologischen Fussabdruck gibt es keine Verantwortlichen mehr. DENN "pro Kopf" sind alle!, auch Radfahrer, für die durchschnittlichen Autoabgase verantwortlich.

Ich war lange Zeit in der Jugendforschung aktiv. Heranwachsende suchen aktuelle Trends, sie wollen sich und ihre Stile vorzeigen, wollen aussehen wie Ihre Freunde. Konsum ist das Mittel. Klamotten, die nicht up to date sind, gehen gar nicht. Sprache, Ausdrucksweise: Gleichaltrige sind sensibel dafür was passt und was ‚out ist‘.

Was der Einzelne jeglichen Alters kann: sich aktiv in der Politik einbringen, Einfluß nehmen. Sich am allgemeinen Leben beteiligen, im kleinen Umfeld präsent sein. Ehrenamtlich unterwegs. So lernt man soziale Kontakte knüpfen und pflegen. Auch die Eltern haben ihren Anteil. Es hat etwas mit Bildung zu tun. Der positive Begriff von Konsum ist Güterversorgung. Nicht Güterschwemme. Kinder von Konsumjunckies tun sich schwer.

Die Schattenseite der Fast Fashion (schnelle Mode): Ein Friedhof für gebrauchte Kleidung in der Atacama-Wüste Südamerikas. (Archivfoto)
Foto: Antonio Cossio, dpa | Die Schattenseite der Fast Fashion (schnelle Mode): Ein Friedhof für gebrauchte Kleidung in der Atacama-Wüste Südamerikas. (Archivfoto)
Und zum Abschluss Ihr Blick nach vorn?

Die Welt ist nicht zu bedrohlich, um Nachwuchs zu haben. Jede Generation erfindet sich ihre Welt ein Stück weit neu. So gibt es fortgesetzt Anpassungen. Von meinem Schreibtisch aus sehe ich Kinder in freundschaftlichem Umgang miteinander, es geht integrativ zu. Erwachsene sollen daran denken und mitwirken, der nächsten Generation eine lebenswert Umwelt zu hinterlassen. Es gilt, Nachhaltigkeit Ernst zu nehmen. Wir müssen lernen, über den eigenen Gartenzaun zu blicken. Wie sieht es in der globalen Welt aus? Unter welchen Bedingungen wird dort gelebt, welche Form der Benutzung ist zu erkennen? Rohstoffe, Verwahrung unserer Abfälle und so weiter. Am Bespiel Fast Fashion wird klar, unser Handeln, unser Konsum verändert auch deren Lebenswelt.

Prof. Dr. Claus Tully: in Zeil geboren, nach Königsberg zurückgekehrt

Tully, geboren 1949 in Zeil am Main, ist Soziologe und Jugendforscher. Er arbeitet als Privatdozent an der FU Berlin und als Professor a.V. an der FU Bozen. Lange Zeit war er wissenschaftlicher Referent am Deutschen Jugendinstitut in München. Er ist Autor von rund 30 Büchern, erst kürzlich ist sein Werk erschienen: "Auf dem Weg in die neue Heimat 2024".
Tullys Themen sind: Jugend und informelles Lernen, Medien, Nebenjobs, Geld, Konsum, Mobilität, Nachhaltigkeit. Er wohnt seit kurzem in Königsberg.
Quelle: Wolfgang Aull
 
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  • Florian Tully
    Danke für den Artikel. Wir heißen ähnlich - und wir denken ähnlich.
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