In den Pfingstferien erfährt Silvia, die eigentlich anders heißt, dass ihr eigener Vater seine Enkeltochter, ihre heute 14-jährige Nichte, über Jahre hinweg sexuell missbraucht und sogar vergewaltigt haben soll. "In dem Moment brach bei mir alles zusammen", sagt sie. Nun kommen auch bei Silvia lange verdrängte Erinnerungen nach oben. Dinge, die so schrecklich sind, dass sie nie mit jemandem darüber gesprochen hat.
Es ist der zweite von sieben möglichen Verhandlungstagen vor dem Landgericht Bamberg. Dort wird einem ehemaligen Polizisten aus dem Landkreis Haßberge der Prozess gemacht. Am ersten Verhandlungstag im November hatte der Beschuldigte zu den schweren Vorwürfen geschwiegen, die gegen ihn erhoben werden. Bei Besuchen sollen der Mann und seine Enkeltochter im gemeinsamen Bett geschlafen haben. Dabei, glaubt man den Ermittlungen der Kriminalpolizei, habe der Großvater in mindestens zehn Fällen nach sexuellen Handlungen gefragt. Als er diese nicht bekommt, habe er sie sich geholt, so die Staatsanwaltschaft. Bis ins Jahr 2021 sollen sich diese Vorfälle fortgesetzt haben.
Auch die eigene Tochter berichtet von Übergriffen
Silvia ist am zweiten Verhandlungstag Hauptzeugin. "Ich glaube meiner Nichte. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass er dazu in der Lage ist", sagt sie vor Gericht. Dann schildert Silvia einen Vorfall in der Wohnung des Vaters. Details sollen aus Gründen des Opferschutzes nicht erwähnt werden. Nur soviel: Danach ist Silvia traumatisiert. Als sie selbst zwei Kinder bekommt, dürfen diese niemals mit dem Großvater alleine sein. Schon gar nicht über Nacht, sagt sie.
Damit will Silvia zumindest den eigenen Nachwuchs vor den sexuellen Übergriffen des Opas bewahren. Als er versucht, den Umgang mit den Enkeln über das Familiengericht juristisch zu erzwingen, droht sie ihm, den lange zurückliegende Fall doch noch anzuzeigen.
Freilich gibt sich Silvia als Mädchen und später als Frau keinen Illusionen hin. "Ich hatte für den sexuellen Übergriff keinerlei Beweise. Es war lange her und er war Polizeibeamter. Wer hätte mir denn geglaubt?" Silvia selbst macht sich heute schwerste Vorwürfe, dass sie nicht früher geredet hat. Sie glaubt, dass dadurch das jahrelange Martyrium ihrer kleinen Nichte vielleicht hätte vermieden werden können.
"Nun aber kann ich nicht mehr schweigen". Denn eines wird im Laufe des Prozesstages immer klarer. Das einst so lebenslustige Mädchen leidet ganz enorm. "Sie möchte kein Mädchen mehr sein", sagt Silvia. Inzwischen will sie nur noch mit einen männlichen Vornamen angesprochen werden.
Berichte von Depression und Verzweiflung
Nach Auskunft mehrerer Zeugen sind die schulischen Leistungen eingebrochen. Sie verhalte sich auffällig, ziehe sich vor anderen Menschen zurück, wirke depressiv und verletze sich selbst. "Das bereitet mir größte Sorgen", so eine Sozialarbeiterin. Außerdem sei sie verzweifelt und habe mehrfach Suizidabsichten geäußert, ergänzt Rechtsanwalt Jürgen Scholl aus Schweinfurt. Er vertritt das Mädchen als Nebenkläger.
Es ist ein hochemotionaler Verhandlungstag, an dem bei Silvia viele Tränen fließen. Nur einer zeigt sich völlig unbeeindruckt – der Angeklagte. Kein Wort des Bedauerns, der Entschuldigung, des Eingeständnisses. Der Prozess wird fortgesetzt.