
Bernd Reinhard war lange guter Dinge. Über Jahre hinweg war er zuversichtlich, dass auf europäischem Boden nie wieder Kriege geführt würden. Doch dieser Optimismus ist erschüttert. Die aktuelle weltpolitische Lage hat den 78-jährigen Haßfurter dazu gebracht, ein Kapitel aus seinem bisherigen Leben aufzuschlagen, das er gerne in der Versenkung gehalten hätte: Es sind die Gräuel, die der Zweite Weltkrieg und die Jahre danach auch nach Haßfurt und in die Region gebracht haben. 80 Jahre nach dessen Ende, so Reinhards Befürchtung, drohen die Erinnerungen in der Gesellschaft zu verblassen – und mit ihnen die abschreckende Wirkung.
Der amtierende Kreisarchivpfleger möchte das Vergessen verhindern. Doch Reinhard geht es nicht nur um seine eigene Geschichte, seine eigenen Erinnerungen an die Schrecken der damaligen Zeit. Seit einigen Wochen sammelt er Erzählungen von Menschen aus der Region. Reinhard kontaktiert alte Bekannte und erkundigt sich nach erzählenswerten Erlebnissen, die ihnen im Zusammenhang mit der Kriegszeit und den Jahren danach einfallen. Es seien grausame Geschichten dabei, sagt Reinhard, aber auch rührende, solche, die zu Herzen gehen.
Knapp dreißig solcher Berichte hat er bereits zusammengetragen, erklärt er im Gespräch mit dieser Redaktion. Und der Kreisarchivpfleger ruft dazu auf, ihm weitere Geschehnisse zu erzählen. Denn er hält fest an der Überzeugung, dass Menschen aus der Geschichte lernen können, wenn sie nur zuhören, sich ihr aufmerksam zuwenden. "Wer mehr weiß, sieht mit anderen Augen", so der 78-Jährige.
Tief verwurzelt in der Vergangenheit der Stadt Haßfurt
Reinhard bezeichnet sich selbst als "uralten Haßfurter". Er stamme zumindest aus einer der ältesten Familien, die heute in dieser Stadt zugegen seien. Sein Stammbaum gehe zurück bis in das Jahr 1693, als der Senator und Kaufmann Johann Michael Reinhard zum Administrator der Ritterkapelle in Haßfurt berufen wurde. Fünf Jahre lang war der sogar Bürgermeister der Stadt. Die nachfolgenden Generationen wurden allesamt Kaufleute. Seine Eltern, so Reinhard, betrieben einen Kolonialladen in Haßfurt nahe des Unteren Turms.
Bernd Reinhard kam ein Jahr nach dem Kriegsende 1945 in einem Krankenhaus in Schweinfurt zur Welt. Das Haßfurter Krankenhaus, erzählt er, sei damals nicht einsatzfähig gewesen. Und so kam es, dass der evangelische Pfarrer Reinhards katholische Mutter mit dem Auto zur Entbindung fuhr. Zu dieser Zeit sei das konfessionsübergreifende Miteinander noch ein ganz außergewöhnliches zwischenmenschliches Ereignis gewesen, so der Kreisarchivpfleger
Die Kindheitserinnerungen zeichneten ein Bild des Elendes in seiner Heimatstadt, erzählt Reinhard weiter: "Zerbombte Häuser, Menschen mit schweren Behinderungen, mit nur einem Arm oder einem Bein, und traumatische Geschichten, die die Soldaten aus dem Krieg mitbrachten." Dazu erinnert er sich an Brutalitäten, welche Daheimgebliebene durchmachen mussten. Und nicht zuletzt an das Leid, wenn seelisch gebrochene Familienmitglieder nicht mehr zueinander fanden.
Nach dem Abitur folgt Studium der Pädagogik
All dies hat sich in die Seele des Kindes gebrannt, in Reinhards Seele. Seitdem setzt er sich ein für Bildung, Humanismus und Toleranz. "Wer mehr weiß, sieht mehr" wurde sein Credo. Er machte 1967 in Haßfurt sein Abitur, um anschließend Pädagogik für Lehramt in Bamberg zu studieren. "Während des Studiums wurde meine besondere Liebe zur Heimatgeschichte von Haßfurt und seiner Umgebung geweckt", erinnert er sich heute. Schon seine Diplomarbeit schrieb er über die Rathäuser im Altlandkreis Haßberge.
Bereits 1975 übernahm Bernd Reinhard das Ehrenamt des Kreisarchivpflegers. "Ich war damals der jüngste in Bayern, heute bin ich der Dienstälteste", sagt er voller Stolz. Mit dem Dienstausweis in der Hand besucht er seitdem die Rathäuser seines Zuständigkeitsbereiches. Er trägt dafür Sorge, dass durch sachgemäße Archivierung die niedergeschriebenen Dokumente der Vergangenheit in eine gesicherte Zukunft geführt werden.
Erzählungen im Laden über die Schrecken des Kriegs
Der Archivar stößt hierbei hautnah auf Zeugnisse wiederkehrender Kriegszeiten, die ihn erschaudern lassen. Und die eigene Erinnerung aus den Erzählungen im elterlichen Laden wachrufen: "Ein Kunde berichtete, wie er mutterseelenallein in Russland stationiert war, als unerwartet ein deutscher Panzer vor ihm anhielt. 'Mensch, Heinrich, Du hier?' Sein Nachbar schaute aus dem Panzer, er stieg aus, sie unterhielten sich, machten ausgiebig Brotzeit und nahmen Abschied. Der Panzer rollte weiter, und nach 150 Metern ging er in die Luft."
Reinhard wurde Grundschullehrer, ging seinem Beruf hauptsächlich in Hainert, Wonfurt und Theres nach. Er gab gerne Religionsunterricht, erzählt er, das Neue Testament habe ihm besonders am Herzen gelegen. Es vermittle Nächstenliebe, Toleranz, Friedfertigkeit. Dessen Bedeutung zu lehren, wurde eines seiner großen Anliegen.
Heute schaudere er, wenn er die Nachrichten im Fernseher anschaue. Seinen sehnlichen Wunsch, dass den beiden Kindern und den drei Enkelkindern ein friedvolles Dasein auf der Erde vergönnt ist, sieht er schwinden. Einfach nur zuschauen möchte er aber nicht. Deswegen sammelt er Geschichten, sortiert sie und macht sie einer Öffentlichkeit zugänglich.
Ausstellung im November im BIZ in Haßfurt geplant
Zudem ist der Archivar gemeinsam mit seiner Frau damit beschäftigt, alle Kriegsdenkmäler in seinem Zuständigkeitsgebiet zu fotografieren. Die Sammlung, so der Plan, soll dann in einer Ausstellung münden, die ab dem 12. November 2025 im BIZ in Haßfurt zu sehen sein wird. Reinhard plant, zur Eröffnung einen Vortrag zu halten zu dem ihm so wichtigen Thema. Und er möchte Zeitzeugen aus der Region zu Wort kommen lassen, die sich bereit erklärt haben, mit ihren Originalerzählungen die Brisanz seines Anliegens zu unterstreichen.
Der Kreisarchivpfleger spricht von einer Kultur der Erinnerung, die für den Frieden, aber auch für den Erhalt demokratischer und humaner Werte von elementarer Bedeutung sei. Mit dem einen ganz großen Ziel, wie er betont: "eine sichere Welt, ein demokratisch ausgerichteter Staat, und eine tolerante Gesellschaft". Und dazu gehöre auch: "Nie wieder Krieg auf deutschem Boden."
Menschen, die eine eigene Geschichte zu Bernd Reinhards Projekt beitragen möchte, können sich telefonisch an den Kreisarchivpfleger wenden unter: (09521) 1299.