Die innerdeutsche Grenze war lange Zeit Walter Herolds Leben. Nur wenige Aussiedlerhöfe, Wiesen und Äcker lagen zwischen seinem Wohnort Ermershausen und dem Todesstreifen, der in rund 1500 Metern Entfernung die Flur durchschnitt und das Land teilte – in Ost und in West, in DDR und BRD.
Herold lebte nicht nur an der Grenze. Als Polizist – stationiert im nahegelegenen Bad Königshofen – war es sein Auftrag, eben jene zu schützen. Er lernte Menschen kennen, die bei der Flucht aus der DDR ihr Leben riskierten. Und sah, wie groß die Freude auf beiden Seiten der Demarkationslinie war, als Metallgitterzäune und Wachtürme verschwanden und die Wiedervereinigung, die sich nun zum 32. Mal jährt, ihren Lauf nahm. Aber von vorne.
Zuständig für 56 Kilometer Todesstreifen
Es ist Herbst. Walter Herold, ein Mann mit grauem Haar auf dem Kopf und schwarzem Brillengestell auf der Nase, sitzt im warmen Wohnzimmer an einem Holztisch. Er öffnet den Klemmbügel eines Leitzordners, der vor ihm liegt. Der 66-Jährige hat die Erinnerungen an seine Arbeit als Polizist abgeheftet. "Mein Vater kam nach dem Krieg zum Grenzschutz", beginnt Herold zu erzählen, blättert suchend, hält schließlich ein vergilbtes Formular in der Hand. "1957 wechselte er zur Bayerischen Grenzpolizei, hier die Versetzung."
Walter Herold tat es seinem Vater nach. Nicht aus Eifer, sondern der Liebe wegen blieb er in der Heimat, anstatt wie ursprünglich geplant als Marinesoldat im Norden des Landes zu dienen. 1976 trat er den Dienst in Bad Königshofen an, das damals zur Grenzpolizeiinspektion Mellrichstadt zählte. "Wir waren für 56 Kilometer Grenze zuständig", erinnert sich Herold. 56 Kilometer Todesstreifen, schier unüberwindbar mit seinen zweireihigen Metallgitterzäunen, zwischen denen heimtückische Tretminen vergraben lagen; mit seinen Sperrgräben, Beobachtungstürmen, seinem Stacheldraht; mit all den Wachhunden und Grenzsoldaten der Nationalen Volksarmee, NVA. Es war ein Bollwerk.
Grenzdurchbrüche mehrten sich in den 80-ern
"Unsere Aufgabe war es, Veränderungen und auffällige Aktivitäten auf der anderen Seite zu beobachten", erklärt der Ermershäuser. Der 66-Jährige zieht ein Foto aus einer abgehefteten Klarsichtfolie. Herold, auf dem Bild wohl in den Mittzwanzigern, sitzt mit einem Kollegen auf einer Holzbank im Wald. In den Händen hält er ein Fernglas, die Grenze ist nicht weit. Viel, was auf der anderen Seite geschah, blieb im Verborgenen. "Doch wenn viele Soldaten zu sehen waren, musste etwas passiert sein." Ein Grenzdurchbruch etwa. Dann, erzählt er, war die Aufregung auf Seite der DDR groß.
Eine Flucht ist Herold besonders in Erinnerung geblieben. Es war in einem Sommer Mitte der 1980-er Jahre, erzählt er. Pioniere der NVA waren gerade damit beschäftigt, die DDR-Grenzanlage umzubauen. Sie montierten massive Metallgitterplatten an die Betonpfeiler des neuen Zauns, der nun drei Meter hoch werden sollte. "Ein Soldat dieser Einheit kam offenbar ins Grübeln." Er nutzte den Moment, in dem die Wache unaufmerksam war – und ergriff die Flucht in den Westen. Herold sprach auf der Dienststelle mit dem jungen Mann. "Er erzählte mir, er habe am Aufbau der Anlage gemerkt, dass die Grenze nicht als antifaschistischer Schutzwall dient, wie es die DDR-Propaganda immer erzählte. Er merkte, dass er gerade sein eigenes Gefängnis baut." Denn der Zaun war nicht da, um den Klassenfeind draußen zu halten. Er war da, um das eigene Volk einzusperren. "Die Grenze baute sich von Ost nach West auf, und nicht andersherum."
Doch mit der erfolgreichen Flucht des Grenzpioniers ist diese Geschichte nicht beendet. Herold erzählt, wie nur kurze Zeit später eine Frau mittleren Alters auf der Dienststelle in Bad Königshofen erschien. Sie fragte nach dem jungen Mann, gab an, mit ihm sprechen zu wollen. "Es war offenbar die Mutter, sie war in den Westen geschickt worden, um Druck auszuüben." Denn der Vater des Fahnenflüchtigen, so die Erzählung, war Offizier bei der Volkspolizei. Die Mutter wollte ihren Sohn überzeugen, dass er mit ihr zurückkehrt. Ansonsten drohten dem Vater berufliche Konsequenzen. "Die Frau ging, aber alleine. Der Sohn ist geblieben", sagt Herold.
Mitte der 1980-er stieg die Zahl der Flüchtenden aus der DDR, zumindest in Herolds Dienststellenbereich. "Acht waren es damals allein in einem Jahr. Solche Fälle gingen natürlich immer durch die Westpresse", erzählt Herold, während er in seinen abgehefteten Erinnerungen blättert und das nächste Foto hervorkramt. "Hier sieht man, wie die Minen im Todesstreifen beseitigt und gesprengt werden", erzählt er. Tatsächlich baute das DDR-Regime die Grenzanlage in den 1980-er Jahren um. Aus den zwei Reihen Metallgitterzäunen wurde eine. Die Minen verschwanden. Aber nicht, um den Menschen die Flucht zu erleichtern. "Stattdessen wurde ein vorgelagerter Hinterlandssicherungszaun errichtet, weit vor der eigentlichen Grenze." Bei Berührung löste dieser Alarm aus. "Wir im Westen sollten von den vielen Grenzdurchbrüchen einfach nichts mehr mitbekommen", erklärt Herold.
Ansturm auf Mellrichstadt nach Grenzöffnung
Doch es war zu spät. Michail Gorbatschow hatte mit seiner Politik der Öffnung bereits den Untergang der Sowjetunion und damit auch der DDR eingeläutet. Ende des Jahrzehnts schien die Deutsche Einheit erstmals zum Greifen nahe. Besonders in Berlin zog es im Herbst 1989 Hunderttausende auf die Straße, dann fiel die Mauer. "Am 9. November war das erste Mal die Grenze offen", erinnert sich auch Walter Herold. "Damals hatte ich Urlaub. Zwei Tage später, ich war gerade auf dem Weg zum Faschingsauftakt, kam dann ein Anruf von meinem Vorgesetzten." In Mellrichstadt breche gerade alles zusammen, hieß es am anderen Ende der Leitung. Herold machte sich auf den Weg.
Was ihn in Mellrichstadt erwartete, übertraf seine Vorstellungen. "Überall waren Menschenmassen." Am ersten Wochenende nach der Grenzöffnung herrschte in der Stadt an der Streu Ausnahmezustand. Über 50.000 Besucherinnen und Besucher aus der DDR bevölkerten die Straßen. Eine bläuliche Dunstwolke aus den Abgasen der Trabis und Wartburgs lag über dem Ort. Mittendrin: Walter Herold. Er regelte den Verkehr, zumindest versuchte er es. "Schon nach einer Stunde hatte ich keinen Geschmack mehr durch den Smog der Zweitaktmotoren, den ich einatmete." Menschen seien aus ihren Fahrzeugen ausgestiegen und ihm um den Hals gefallen, erzählt er weiter. "Ich habe gemerkt: Gerade wird Geschichte geschrieben."
Keine Vorwürfe an die ehemaligen Grenzsoldaten
Mit der Grenzöffnung begann auch der Austausch unter den Grenzschützern von Ost und von West. Herold blättert erneut in seinem Ordner. Er zieht einen goldenen Orden aus einer Folie, darauf Hammer und Zirkel auf rotem Untergrund, das Staatswappen der ehemaligen DDR. "1991 habe ich die von Grenzaufklärern geschenkt bekommen", sagt er. Eine Pfeife aus Metall, eine Armbinde und eine Gürtelschnalle befinden sich ebenfalls im Erinnerungsordner. "Ich möchte nicht mit dem Finger auf die Grenzsoldaten der anderen Seite zeigen", sagt Herold. "Jeder von uns hatte sein Feindbild und dachte, er steht auf der richtigen Seite."
Mit dem Ende der Teilung und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 verschwand auch die Grenze, an der Walter Herold fast täglich patrouillierte. Nun standen sich am Todesstreifen keine Polizisten und Soldaten mehr gegenüber. Für Herold war die Aufgabe in Bad Königshofen damit beendet, er wechselte im Januar 1991 zur Polizeiinspektion Ebern. Seit 2017 befindet er sich im Ruhestand.
Die Geschichte der innerdeutschen Grenze hat Walter Herold trotzdem nicht vergessen. Und er sorgt dafür, dass das auch bei anderen so bleibt. "Ich führe Wandergruppen an der ehemaligen Grenze entlang und ich erzähle ihnen von meinen Erfahrungen an diesem Ort", sagt Herold. Dass er heute hier stehen kann, habe er und der gesamte Westen Michail Gorbatschow zu verdanken, dem letzten Präsidenten der Sowjetunion, findet der 66-Jährige. Was dessen Nachfolger Wladimir Putin mit Blick auf die Ukraine nun tue, sei das Gegenteil von Gorbatschows Öffnungspolitik. "Was er tut, ist beängstigend." Die Grenze zwischen den Blöcken aus Ost und West ist zwar inzwischen verschwunden, die in den Köpfen der Menschen aber könnte 32 Jahre nach der Wiedervereinigung wieder zurückkehren.
Herr Herold hat Charakter. Ich finde es gut, dass er sich nicht einfach in ein engstirniges Schwarz-Weiß-Denken pressen läßt, sondern immer noch differenziert und eigenständig denken kann.
Das sind Eigenschaften, die man heutzutage nicht überall findet.