Janina ist happy: Böller knallen durch die Silvesternacht, Feuerwerk-Raketen erhellen den Himmel. Das neue Jahr 2016 ist gerade eine Stunde alt. Fröhlich feiert die Elfjährige aus einem Nachbarort mit Freunden und deren Eltern auf einer Wiese am Ortsrand. Sie ruft sogar ihre Mama an, erzählt, wie viel Spaß sie habe und wie glücklich sie sei. Zum ersten Mal darf sie alleine Silvester feiern.
Plötzlich bricht die Schülerin zusammen, wie vom Blitz getroffen. Etwas hat sie mit brutaler Gewalt am Kopf getroffen. Ein Böller? Eine Flasche? Sanitäter versuchen, das Mädchen wiederzubeleben. Der Rettungswagen bringt sie in die Klinik in Schweinfurt - doch Janina ist nicht zu retten. Entsetzt ziehen die Ärzte ein Stück Metall aus der blutenden Kopfwunde des Kindes. Rasch wird klar: Das ist kein Brocken von einer explodierten Feuerwerks-Rakete.
Die Beamten der Schweinfurter Kriminalpolizei erfahren durch eine Obduktion: Ein Geschoss, Kaliber 22, Durchmesser 5,6 Millimeter, traf Janina am Hinterkopf. Es durchdrang ihr Gehirn und blieb kurz vor dem Austritt im vorderen Stirnknochen stecken.
Roland E. sagt, er habe die ganze Nacht geschlafen
In Unterschleichach (Lkr. Haßberge) sind die 450 Einwohner entsetzt. Die Polizei ist am 1. Januar im Ort unterwegs, befragt Nachbarn. Sie bittet über die Medien um Zeugenhinweise, dann auch um Fotos und Filmaufnahmen aus der Silvesternacht. Rasch sind auch die ersten Reporter im Ort und auf Spurensuche. Der Tod der Elfjährigen beschäftigt ganz Deutschland.
Bei der Befragung erzählt Nachbar Roland E. den Beamten: Er habe den kompletten Jahreswechsel verschlafen und sei erst durch das Klingeln der Polizei aufgewacht. Er habe von "der Sache" direkt vor seinem Anwesen nichts mitbekommen.
Polizisten suchen den Tatort nach weiteren Geschoss-Teilen ab, andere stellen alle Waffen des Kalibers im Ort sicher: 60 Stück sind offiziell registriert. Auch eine Kleinkaliberpistole des 53-jährigen Roland E. ist dabei. Im Keller hat er neben zwei Winchester-Langwaffen und dem Kleinkaliberrevolver auch eine Neun-Millimeter-Luger-Pistole liegen.
Der Sohn fragt: "Papa, warst Du das?"
Sein eigener, 15-jähriger Sohn fragt Roland E.: "Papa, warst du das?" Der verneint. Eine 50-köpfige Sonderkommission ermittelt. Bei ihr gehen rund 60 Hinweise und mehr als 100 Bilder und Videos aus der Tatnacht ein. Eine heiße Spur ist nicht darunter.
- Wir über uns: Warum Täternamen unkenntlich gemacht werden
Tagelang blühen Gerüchte im Sumpf der Ungewissheit. Die Ermittler werden misstrauisch, als sie die gesammelten Aussagen der Bewohner vergleichen: Eine Nachbarin sah in der Silvesternacht beim Haus von Roland E. die Bewegung eines Menschen im Halbschatten. Warum sagt E., er habe trotz des Lärms geschlafen? Und warum ist seine Pistole (mit dem passenden Kaliber) frisch geölt - obwohl er angibt, sie seit 15 Jahren nicht mehr benutzt zu haben?
Merkwürdiges Verhalten macht Nachbarn verdächtig
"Dass seine Angaben in wesentlichen Dingen nicht stimmten, hat den Fokus auf ihn gelegt", sagt Leitender Oberstaatsanwalt Erik Ohlenschlager in Bamberg. Auch eine RTL-Reporterin wundert sich bei der Recherche vor Ort: Das Haus in der Nähe des Tatortes ist hell erleuchtet, die Rollos unbekümmert hochgezogen, als wisse man: Es kann nichts mehr passieren. Dagegen hat sich der Rest des Ortes verschanzt aus Angst, der bis dahin unbekannte Mörder könnte erneut auf jemanden schießen.
"Ich fand schon das befremdlich", erzählt die Reporterin. Damit nicht genug. Als sie klingelt und Fragen stellt, kommt Roland E. aus dem Wohnzimmer und schreit völlig unmotiviert: "Ich will dazu nichts mehr sagen und hören." Das wiederholt er geradezu manisch noch einmal. Der erfahrenen Reporterin kommt das so seltsam vor, dass sie Ermittlern davon erzählt. Die bitten sie, das in einer offiziellen Aussage zu Protokoll zu geben.
Am 12. Januar 2016 nehmen die Ermittler E. an seiner Arbeitsstelle fest. Er ist Fahrer eines Lkw der JVA Ebrach. Der 54-Jährige zeigt kaum emotionale Regungen, hört sich die Vorwürfe geduldig an. "Er hat nichts abgestritten. Das kam mir komisch vor", sagt ein Ermittler später vor Gericht. Erst auf der 40-minütigen Autofahrt nach Schweinfurt sei der Beschuldigte nach und nach aufgetaut.
Der Angeklagte räumt ein: "Dann muss ich wohl geschossen haben"
In den folgende Vernehmungen räumt er dann ein, mit der Tat etwas zu tun zu haben. "Er sagte unter anderem: Dann muss ich wohl geschossen haben." Begründung fallen Worte wie "Blödsinn", "Dummheit" und "Ärger".
In mehreren Etappen gesteht Roland E. die ganze furchtbare Wahrheit: Seine Lebenssituation war bedrückend - und der Lärm fröhlich feiernder Menschen war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Reporter Otto Lapp hat für "Die Zeit" später die Geschichte aus der Perspektive des Täters recherchiert. Er erzählt: Ein Knall habe Roland E. um 1 Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen. "Er erhebt sich von der Couch, schaut aus dem Fenster und sieht, wie Kinder Raketen in die Luft jagen, wie sie Böller werfen, wie sie lachen und jubeln. Roland E. wird wütend. Wahnsinnig wütend."
Er geht in den Keller, holt seine Pistole, nimmt die Munition aus dem Schrank und lädt die Waffe durch. Dann steigt er die Treppe wieder hinauf und verlässt das Haus, läuft durch seinen Garten, biegt um eine Ecke und feuert seine Pistole drei- oder viermal ab, "horizontal mit flachem Winkel", wie der ermittelnde Staatsanwalt später sagen wird. Er schießt also nicht in die Luft, er zielt auf fröhliche Kinder. Ganz bewusst. Und er trifft.
Das Landgericht Bamberg hat keinen Zweifel: Es war Mord
Warum er ausgerechnet mit der Kleinkaliberwaffe schoss, kann der Angeklagte vor Gericht später nicht sagen. Aus Zufall? Dabei waren deren Schüsse kaum hörbar. Er sagt auch nicht, warum er sich bei Abgabe der Schüsse versteckt hielt und hinterher alles tat, um mögliche Spuren der Tat zu verwischen.
Es war Mord - daran lässt das Landgericht Bamberg am Ende keinen Zweifel. Er habe gewusst, dass ein Schuss aus dieser Waffe tödliche Wirkung haben könne. Auch wenn er nicht gezielt auf das Mädchen geschossen habe, habe er doch dessen Tod billigend in Kauf genommen und deshalb vorsätzlich und nicht etwa nur fahrlässig gehandelt. Es bestehe ein so krasses Missverhältnis zwischen diesem nichtigen Anlass und der Tat, dass sich allein schon daraus das Mordmerkmal des niedrigen Beweggrundes ergebe.
Für Mord gibt es eigentlich lebenslange Haft. Dass sie Roland E. erspart bleibt, liegt an seiner besonderen Lebenssituation. Er ist seit fünf Jahren schwer krank; eine Zwerchfelllähmung und eine chronische Bronchitis, beide ohne Aussicht auf Heilung, machen ihm das Leben schwer. Als Folge dieser Krankheiten hat sich eine Depression entwickelt.
Seine Lebensgefährtin hat ihn verlassen und den Sohn, an dem er sehr hängt, mitgenommen. Er ist vereinsamt; aus dem sozialen Leben des Dorfes hat er sich weitgehend zurückgezogen. Dies und die Wut über die Ruhestörung durch die feiernden Leute auf der Straße zusammengenommen, hatte der psychiatrische Sachverständige im Prozess erläutert, könne zum Tatzeitpunkt "zu einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit" geführt haben.
Das Urteil für Roland E.: Zwölfeinhalb Jahre Gefängnis
Das Gericht sieht es ebenso. Deshalb komme nur eine zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe in Betracht: Zwölfeinhalb Jahre Gefängnis für den Mord an der Elfjährigen.
Oberstaatsanwalt Otto Heyder gibt zu erkennen, dass er mit dem Urteil zufrieden ist. Verteidiger Thomas Drehsen will sich nicht äußern, kann aber froh sein, dass sein Mandant um die lebenslange Haft herum gekommen ist. Auch die Anwälte von Janinas Eltern äußerten sich zufrieden: "Hauptsache Mord, und Hauptsache zweistellig", sagte Rechtsanwalt Norman Jacob, der Janinas Vater vertritt.
"Ich bitte die Eltern um Verzeihung." Diesen einen Satz spricht der Angeklagte am Ende der Verhandlung. Er schaut dabei zu den Richtern – nicht zu den Angehörigen, für die die Worte gedacht waren. Der Hass aber bleibt: "Schmor in der Hölle", ruft eine Tante von Janina dem Verurteilten nach, als er abgeführt wird.