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FUKUSHIMA/KÖNIGSBERG
Fukushima und die Folgen
Atomkatastrophe: Als Notfallpädagogin half Akiko Matsunaga aus Königsberg (Lkr. Haßberge) nach dem Tsunami vor fünf Jahren Schülern und Lehrern in ihrer Heimat Japan bei der Bewältigung der Traumata. Sie ist enttäuscht, wie in dem Land heute mit den Folgen umgegangen wird.
Fukushima und die Folgen       -  Akiko Matsunaga aus Königsberg war im Jahr 2011 nach der Reaktorkatastrophe in Japan und betreute als Notfallpädagogin Kinder und Jugendliche.
Foto: Michael Mößlein | Akiko Matsunaga aus Königsberg war im Jahr 2011 nach der Reaktorkatastrophe in Japan und betreute als Notfallpädagogin Kinder und Jugendliche.
Michael Mößlein
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:47 Uhr

Vor fünf Jahren, als vor Japan die Erde bebte und verheerende Flutwellen den Inselstaat trafen, war Akiko Matsunaga 9000 Kilometer davon entfernt. Die 48-Jährige, die in Königsberg (Lkr. Haßberge) wohnt und als Lehrerin an der Waldorfschule in Haßfurt unterrichtet, erfuhr von der Katastrophe in ihrer Heimat aus deutschen Nachrichtensendungen. „Von 5000 Toten an der Küste war da zuerst die Rede“, erinnert sie sich. Da ahnte sie noch nicht, dass sie ein paar Wochen später die katastrophalen Zerstörungen, die die Naturkatastrophe angerichtet hatte, mit eigenen Augen zu sehen bekommt.

Reise ins Katastrophengebiet

Am 26. April 2011 reiste die Eurythmie-Lehrerin (Methoden der Bewegungskunst) mit einem zehnköpfigen Team ins Katastrophengebiet. Als Muttersprachlerin und dank ihrer Erfahrungen mit traumatisierten Kindern passte sie gut in die Gruppe aus Lehrern, einem Psychologen und einem organisatorischen Leiter. Im Auftrag des Vereins „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ leisteten sie notfallpädagogische Hilfe für Schüler, Eltern und Lehrer in den Städten Sendai, Sichigahama, Onagawa und Okawa. Ein Bekannter hatte sie um Mithilfe gebeten. Matsunaga hatte kurz gezögert, dann hatte sie für den zweiwöchigen Hilfseinsatz zugesagt.Was sie sah, bezeichnet sie nach ihrer Rückkehr als „unvorstellbar“: Die Tsunami-Welle, die sich an der Küste teilweise 40 Meter hoch aufgetürmt und sich 40 Kilometer weit ins Land gewälzt hatte, hinterließ pure Zerstörung.

Fukushima - Die Zahlen zur Katastrophe       -  Zahlen zur Fukushima-Katastrophe in der Übersicht. Die Übersicht als pdf gibt es gegen Ende des Artikels zum Download.
| Zahlen zur Fukushima-Katastrophe in der Übersicht. Die Übersicht als pdf gibt es gegen Ende des Artikels zum Download.
Matsunaga hat Autos gesehen, die wie Spielzeug auf die Dächer fünfstöckiger Gebäude gespült worden waren. Auf den Grabsteinen eines Friedhofs lag ein kompletter Eisenbahnzug. Im Fischerort Onagawa, hat Matsunaga erfahren, waren 90 Prozent der Häuser der Schulkinder zerstört. Zehn Prozent der Schüler waren zu Waisen geworden, 15 Prozent zu Halbwaisen. Die Schüler überlebten fast alle, weil ihre Schule zufällig auf einem Hügel stand. In Okawa dagegen starben 80 der 103 Schüler und nur einer von 30 Lehrern überlebte.
 
  • Auch Würzburg war berührt von der Reaktorkatastrophe. Lesen Sie hier den Artikel dazu.


Methoden der Eurythmie

Matsunagas Hauptaufgabe war es, betroffene Kinder und Jugendliche bei der Verarbeitung der Ereignisse zu helfen und den Fachkräften vor Ort hierzu zusätzliche Methoden zu zeigen. Sie lehrte in Arbeitsgruppen Kindern und deren Eltern, wie sie über Methoden der Eurythmie wieder richtig atmen und vor allem ausatmen können, um die gestörten Bereiche in Körper und Geist wieder ins Gleichgewicht zu bringen. „Ich bin unendlich dankbar, dass ich dort war, dass ich die Realität mit eigenen Augen sehen durfte“, sagt die Lehrerin heute.

Sie meint damit nicht die belastenden Eindrücke, mit denen sie sich konfrontiert worden war, die Tränen, das Schweigen, die Leere in den Menschen, die alles verloren hatten. Es geht ihr um die Auswirkungen auf sich selbst. „Ich bin politisch interessierter, ich äußere meine Meinung ohne Hemmungen.“ Und sie hat ihren Stromverbrauch – nur Ökostrom – eingeschränkt, berichtet sie.

"Was kann ich anders machen?"

Akiko Matsunaga hat die Katastrophe von Fukushima für sich auch dadurch verarbeitet, indem sie sich die Frage gestellt hat: Was kann ich anders machen? „Das ist für mich zu einer Lebensaufgabe geworden.“ Für sie ist dies die eigentliche Bedeutung der Katastrophe: daraus Lehren zu ziehen.

Sie fühlt sich mit Japan („meine Heimat“) weiter eng verbunden, hat regelmäßig Kontakt zu Angehörigen und Freunden im Raum Tokio. Sie möchte den Menschen in Japan aus der Ferne keine Ratschläge geben. Dennoch kann sie es nicht verstehen, dass in Japan mittlerweile wieder Atomreaktoren laufen und weitere, im Jahr 2011 abgeschaltete Anlagen wieder hochgefahren werden sollen. Ziel Japans sei es, Atomstrom nicht nur zum Eigenbedarf zu produzieren, sondern zum Verkauf.

Die Wirtschaft, meint Matsunaga, spiele in Japan noch immer eine wichtigere Rolle als der Schutz von Mensch und Natur. Anders als in Deutschland, wo die Regierung nach Fukushima eine energiepolitische Kehrtwende vollzogen und den Atomausstieg eingeleitet hat.

Der japanischen Regierung wirft sie vor, über kontrollierte Medien das Thema der Atomkatastrophe von Fukushima klein zu halten. Denselben Zweck verfolge die japanische Regierung mit der Sommerolympiade 2020 in Tokio. Sie soll für gute Stimmung sorgen und ablenken, verschlingt aber nach Ansicht Matsunagas Unsummen Geld, mit dem Folgen der fünf Jahre zurückliegenden Katastrophe sowie eine nachhaltige Umweltpolitik finanziert werden könnten.

Jahrestag der Katastrophe

Dies gilt auch jetzt zum Jahrestag. Angeblich möchte der japanische Staat die Menschen nicht erneut mit dem erlittenen Trauma konfrontieren. Für Matsunaga geht es dabei aber eher ums Vertuschen, und um das Vermeiden unangenehmer Fragen, was die gesundheitlichen Folgen der freigesetzten nuklearen Strahlen angeht. Die japanische Lehrerin aus Königsberg ist besorgt über Erkrankungen und Fehlgeburten, die in Japan zunehmen und auf Strahlung zurückgeführt würden. Japanische Medien berichteten darüber weniger als deutsche Medien, stellt sie fest.

Dies hatte sie bereits unmittelbar nach der Katastrophe beobachtet. Damals hatten Freunde aus Japan sich bei ihr darüber informiert, was sie in Deutschland aus den Nachrichten erfahren hat. Dies mag auch daran liegen, dass in Japan die Auffassung der Menschen zur Katastrophe von Anfang an eine andere war als hierzulande. Während in Deutschland vor allem die havarierten Atomkraftwerke und die freigesetzten Strahlen Thema Nummer eins waren, wurden die Ereignisse in Fukushima in Japan als eine von drei Katastrophen wahrgenommen, hat Matsunaga festgestellt: Erst gab es das Erdbeben, dann kam der Tsunami und erst dann folgte die Atomkatastrophe.

Vergangenes Jahr war Matsunaga erstmals nach der Katastrophe wieder in Japan. „Angst vor den Strahlen hatte ich keine.“ Sie zittert und weint heute nicht mehr, wenn sie an die Ereignisse im Frühjahr 2011 und deren Folgen denkt. Ihren Landsleuten wünscht sie zum Jahrestag Mut – „den Mut, zu schauen, was genau passiert ist“. Und sie sollten auf die Menschen und auf die Umwelt im Land aufpassen.

Die Katastrophe in Fukushima war auch Anlass für die Energiewende in Deutschland. In einer unserer nächsten Ausgaben beleuchten wir dieses Thema ausführlich mit Experten aus der Region Mainfranken.

 


 

Die Katastrophe von Fukushima

Das Unglück: Am 11. März 2011 verwüstet eine Dreifachkatastrophe aus Erdbeben (Stärke 9,0), Tsunami und Havarie des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi die Küstenregion im Nordosten Japans. Ganze Städte und Dörfer werden zerstört.

Das Atomkraftwerk: 20 Kilometer rund um die Anlage Fukushima Daiichi ist noch immer strikte Sperrzone. Das Kraftwerk selbst gleicht einem Trümmerfeld. Gut 8000 Arbeiter sind tagtäglich in der Atomruine im Einsatz. Der Betreiber Tepco behauptet, die Lage in den Reaktoren sei „stabil“. In den vergangenen Jahren sei die Radioaktivität „deutlich gesunken“. In erstaunlich vielen Bereichen dürfen sich die Arbeiter inzwischen ohne Vollgesichtsmasken bewegen. Die völlige Stilllegung des AKW wird noch 30 bis 40 Jahre dauern, bislang seien rund zehn Prozent geschafft, sagt der Leiter des Kraftwerks, Akira Ono.

Der radioaktive Müll: Täglich dringen Hunderte Tonnen Grundwasser in die Reaktorgebäude und vermischen sich dort mit dem verstrahlten Wasser zur Kühlung der geschmolzenen Brennstäbe. Wo die liegen, weiß auch nach fünf Jahren niemand genau. Geschweige denn, was später damit passieren soll. Es gibt Überlegungen, sie unter dem Meeresboden zu versenken. Große Teile der Anlage sind mit rund 1000 riesigen Tanks übersät, in denen das Wasser nach Durchlaufen eines Filters gelagert wird. In dem Bemühen, die täglich weiter steigenden Wassermassen zu reduzieren, wurde ein Eiswall um die Reaktoren gebaut. Doch aus Sorge um ein zu starkes Absinken des Grundwasserspiegels darf Tepco den Wall zunächst nur stellenweise betreiben. Und dann wäre da noch die verstrahlte Erde, die in der Umgebung abgetragen wird. Ganze Landschaften sind übersät mit Plastiksäcken, obwohl ihre Haltbarkeit nur drei Jahre beträgt. Gegen die Einrichtung eines Zwischen- oder gar Endlagers gibt es Widerstand.

Die Atompolitik Japans: Nach dem Unglück standen zeitweise alle 48 Reaktoren in Japan still. Inzwischen sind trotz Protesten in der Bevölkerung vier Reaktoren wieder angefahren. Die Regierung strebt einen Anteil der Atomenergie an der Stromversorgung bis zum Jahr 2030 von 20 bis 22 Prozent an. Deutschland wählte bekanntermaßen den entgegengesetzten Weg: Im Juni 2011 beschloss die Bundesregierung das sofortige Aus für acht AKW und einen stufenweisen Atomausstieg bis 2022. Damit wurden auch die Laufzeitverlängerungen zurückgenommen.

 
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  • H. H.
    wieviele von den damals blitzumgesiedelten Leuten immer noch in suboptimalen Wohnungen hausen dürfen und welche Perspektiven sie haben respektive wieviel Entschädigung (wenn überhaupt) ihnen bislang gewährt wurde.

    Mein Verdacht ist nämlich: größer 75 % noch in den Notunterkünften, Perspektiven schlecht bis keine, Entschädigung "ein paar Euro fünfzig" für das Allernötigste an Kleidung und Wohnungseinrichtung und sonst nix. Dafür fährt die Regierung die alten Meiler wieder hoch und will zig Millionen für die Olympiavorbereitungen ausgeben, von denen wie üblich auch nur wieder diejenigen profitieren werden, die es nicht mehr nötig hätten.

    Und erzähle mir einer, das wäre in Deutschland auch nur einen Deut anders!

    @ Main-Post: wäre dieser traurige Jahrestag nicht mal eine eingehendere Beschäftigung damit wert, wie es den Betroffenen (bis) heute geht?!
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