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KREIS HASSBERGE
„Es ist Pflicht jeden Haushalts, Flüchtlinge aufzunehmen“
Gestrandet in Eltmann: So kamen 1939 evakuierte Leute aus der Pfalz mit ihren Pferdefuhrwerken in Eltmann an.
Foto: Ludwig Leisentritt | Gestrandet in Eltmann: So kamen 1939 evakuierte Leute aus der Pfalz mit ihren Pferdefuhrwerken in Eltmann an.
Von Ludwig Leisentritt
 |  aktualisiert: 03.12.2019 08:41 Uhr

Derzeit befinden sich weltweit rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Sie suchen nach Frieden und Sicherheit und nach einem auskömmlichen Leben. Niemand nach dem letzten Weltkrieg hätte nach der Vertreibung von Millionen von Menschen wohl daran gedacht, dass es einmal zu einer solchen Flüchtlingskatastrophe kommen wird, wie wir sie heute tagtäglich erleben.

Unter den rund 500 Auswanderern allein aus Zeil, die zwischen 1836 und 1925 ihr Glück in Nordamerika zu finden hofften, waren viele Armutsflüchtlinge, ganz so wie es heute viele der ankommenden Migranten sind. Viele Kommunen, wie zum Beispiel Eltmann und Zeil, zahlten im 19. Jahrhundert armen Auswanderern die Überfahrt, um sie und ihre Familien für immer los zu werden.

Exemplarisch am Beispiel der Stadt Zeil soll dieser Rückblick an das Leid der Heimatvertriebenen, Flüchtlinge und Evakuierten in den Kriegs- und Nachkriegsjahren erinnern. Aber auch an die Opferbereitschaft der einheimischen Haus- und Wohnungsbesitzer. Genau wie heute standen die betroffenen Kommunen damals vor fast unlösbaren Problemen bei der Unterbringung und Verpflegung der gestrandeten Menschen. Erschwerend kam hinzu, dass das ganze Land durch den Krieg wirtschaftlich am Boden lag.

Es begann relativ harmlos im September 1938, als das Dritte Reich die „Befreiung“ des Sudetenlandes in die Wege leitete. Viele Menschen aus diesen Gebieten flüchteten kurzfristig ins Deutsche Reich. Der damalige Landkreis Haßfurt nahm etwa 330 Sudetendeutsche auf, die auch als „Kofferpatrioten“ bezeichnet wurden. Am 25. September trafen 46 Männer in Zeil ein. Mit Musik wurden die Ankömmlinge durch die geschmückten Straßen der Stadt in die bereits dafür hergerichtete Jugendherberge in der Volksschule geleitet. Die Betreuung übernahm die hiesige Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV). Der Kreisleiter aus Haßfurt eilte nach Zeil, um „in flammenden Worten die Verbundenheit mit dem Schicksal des Sudetendeutschtums zum Ausdruck zu bringen.“

In letzter Minute konnte durch das sogenannte „Münchner Abkommen“ ein europäischer Krieg durch die vollständige Erfüllung der deutschen Forderungen vermieden werden. Eine Woche danach kehrten die Leute aus Zeil und dem Landkreis zurück in ihre Heimat. Niemand ahnte damals, dass der Vernichtungskrieg der Nazis dazu führen sollte, dass die Sudetendeutschen 1945/46 ihre Heimat für immer verlieren sollten.

Ein knappes Jahr später, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wurden aus dem französisch besetzten Gebiet weitere Evakuierungen durchgeführt. Man nannte das kriegsbedingte Zwangsmigrationen. Die betroffene Bevölkerung musste damals ihren Besitz aufgeben und zurücklassen.

Die Stadt Zeil informierte ihre Bürger, dass 300 Flüchtlinge, die vom Westwall nach Zeil verlegt werden, auf die Einwohnerschaft verteilt werden müssen. „Es ist Pflicht jeden Haushalts, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Einwohnerschaft wird ersucht, sich sofort zum Schulhaus zu begeben und die Angekommenen aus dem westlichen Grenzgebiet in Empfang zu nehmen.“ Für den Fall, dass bis morgens 6.45 Uhr die Flüchtlinge nicht abgeholt sein sollten, drohte die Stadtverwaltung den einzelnen Haushaltungen, die Leute zwangsweise zuzuteilen. „Es wird erwartet, dass jeder Volksgenosse sich seiner Pflicht bewusst ist, den Bedrängten aus dem gefährdeten Gebiet zu helfen.“

Wenige Tage später gab die Stadt Zeil bekannt, dass weitere 234 Personen von der Westgrenze mit der Reichsbahn nach Zeil kommen. Sie sollten auf die Orte Zeil, Ziegelanger, Schmachtenberg und Krum verteilt werden. Alle Wohnungsinhaber, die noch keine Leute aufgenommen hatten, wurden aufgefordert, ihre „Quartiergäste“ in Empfang zu nehmen. Zuletzt zählte man im August 1940 allein in Zeil 425 Evakuierte.

Die Stadt Haßfurt nahm 750, der ganze Landkreis Haßfurt circa 7000 Leute auf. Die Pfälzer „Rückwanderer“ – zumeist Frauen, alte Männer und Kinder – kamen nur mit Handgepäck hier an. Von heute auf morgen hatten sie ihre Wohnungen verlassen müssen. In unserer Region angekommen, stürmten sie erst einmal die Läden und kauften alles auf, was zu haben war. In Eltmann traf ein großer Treck mit Pferdefuhrwerken ein, wie es eindrucksvolle Bilder belegen.

Der plötzliche Zustrom fremder Menschen brachte die Ernährungslage völlig aus dem Gleichgewicht. Immer wieder forderte die Zeiler Stadtverwaltung Sonderzuweisungen von Schlachtvieh für die Versorgung der „zugewanderten Rückwanderer“ an. Und damit die zahlreichen pfälzischen Holzschuhmacher aus dem Raum Pirmasens auch in Zeil ihren Beruf ausüben konnten, beschafften ihnen die Behörden für ihre Arbeit Weiden-, Pappel- und Buchenstammholz.

Nach dem Vorrücken der Deutschen Wehrmacht nach Frankreich konnten die Pfälzer nach gut zehn Monaten im Juli 1940 mit Sonderzügen zurückkehren, und auch die dörflichen Pfälzer in Eltmann traten die Heimreise mit ihren Pferdefuhrwerken an.

Der heranrückende Krieg und die damit verbundene Bombardierung der Städte im Rheinland zwangen die Machthaber 1943, nun obdachlose Menschen zu evakuieren. Im Juli und August trafen aus dem Gau Düsseldorf 332 „Luftkriegsbetroffene“ in Zeil ein, von denen die meisten aus Wuppertal-Barmen stammten. In Haßfurt und Eltmann ließ die Stadt Düsseldorf für ihre evakuierten Bürger in Kärnten konstruierte Wohnbaracken aufstellen.

„Es wird erwartet, dass jeder Volksgenosse sich seiner Pflicht bewusst ist.“
Information der Stadt Zeil

Die „Düsseldorfer Straße“ in Haßfurt erinnert noch heute an diese Zeit. Und in Eltmann wurden die Baracken erst 1964 abgerissen. Des Weiteren waren in Zeil etwa 30 Ingenieure aus Schweinfurt untergebracht. Insgesamt 400 Menschen hatten im Städtchen zu diesem Zeitpunkt in Einzelquartieren Unterkunft gefunden.

Gegen Ende des Krieges kamen weitere Transporte aus dem Saargebiet und der Pfalz und – als Kiew geräumt werden musste – sogar einige Ukrainer nach Zeil. Im Oktober 1944 erwartete das Landratsamt, dass Zeil weitere 196 Menschen aufnimmt. Bürgermeister Weinig konnte nur noch Massenquartiere in den Tanzsälen der Gasthäuser anbieten. Und er verlangte die Beschlagnahmung von Räumen im Gebäude des Finanzamtes. Hierfür forderte er Betten und Decken an. Ferner waren die Voraussetzungen zur Einrichtung einer Gemeinschaftsverpflegung notwendig.

Nach der Zerbombung von Würzburg am 16. März 1945 waren Tausende von Menschen aus der zu fast 90 Prozent zerstörten Stadt auf der Flucht. Der Zeiler Bürgermeister Weinig verlangte von dem Ortsbauernführer Hans Kremer, dass 15 bis 20 Zentner Stroh für ein Behelfslager bei Göller bereitgestellt und im Tanzsaal ausgelegt werden müssten.

Nach dem Ende des Krieges wurden am 1. August 1945 91 Evakuierte mit rund 400 Koffern, Kisten und Möbelstücken nach Koblenz, Frankfurt, Köln, Düsseldorf und Wuppertal gebracht. Viele Rheinländer saßen noch lange Zeit nach Kriegsende in ihren Notquartieren fest. Mehrere Familien wollten in Zeil bleiben, weil sie zu diesem Zeitpunkt in unserem Raum in Arbeit standen und den sicheren Job nicht aufgeben wollten. Im Interesse der Zeiler Bürger hat der Bürgermeister allerdings auf dem Abtransport bestanden.

Zumindest die Behörden wussten Ende 1945, dass in Kürze eine große Zahl von Flüchtlingen aus den Ostgebieten den Landkreis erreichen wird. Die Bürgermeister wurden aufgefordert, ehemaliges Gut der NSDAP, das sich noch leihweise im Besitz der Gemeinden oder bei Evakuierten befand, zu verkaufen und den Erlös einzusenden. „Es ist zu berücksichtigen, dass in nächster Zeit im Landkreis Haßfurt 10 000 Flüchtlinge unterzubringen sind“, wurde damals mitgeteilt.

Das Landratsamt in Haßfurt veranlasste die Sperrung beziehungsweise die Zurückbehaltung der Lebensmittelkarten bei jenen Hausbesitzern, die sich weigerten, Flüchtlingen Wohnraum bereitzustellen. Landrat Jobst von Zanthier hatte selbst diese Anordnung getroffen, um gegen „ein solches unsoziales Verhalten“ ein Druckmittel in der Hand zu haben.

Oben: Kaum mehr als das, was diese selbstgezimmerte Truhe fasste, durften die Vertriebenen mitnehmen.Links: Hin und wieder gab es auch unschöne Szenen beim Zusammenleben mit den Flüchtlingen.
Foto: Ludwig Leisentritt | Oben: Kaum mehr als das, was diese selbstgezimmerte Truhe fasste, durften die Vertriebenen mitnehmen.Links: Hin und wieder gab es auch unschöne Szenen beim Zusammenleben mit den Flüchtlingen.
Hin und wieder gab es auch unschöne Szenen beim Zusammenleben mit den Flüchtlingen.
Foto: Ludwig Leisentritt | Hin und wieder gab es auch unschöne Szenen beim Zusammenleben mit den Flüchtlingen.
 
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