
Im Jahr 1995 verfolgte Stefan Leidner als 13-Jähriger zum ersten Mal den Eurovision Song Contest (ESC), damals noch Grand Prix Eurovision de la Chanson, im Fernsehen. Es war ein Ereignis mit Folgen: Denn den gebürtigen Reckertshäuser packte damals das ESC-Fieber. Zehnmal war er inzwischen live vor Ort und in diesem Jahr zum ersten Mal nicht vorrangig als Fan, sondern als verantwortlicher Redakteur im Team des Norddeutschen Rundfunks (NDR).
"Das war natürlich der Wahnsinn für mich", verrät Leidner im Gespräch mit der Redaktion. Zwar landete der deutsche Beitrag der Band "Lord of the Lost" am vergangenen Samstag am Ende auf dem letzten Platz, spannende Eindrücke hatte das Team um Leidner auf der Heimkehr aber dennoch im Gepäck.
Stefan Leidner: Jede Landesdelegation muss beim ESC gemäß der European Broadcasting Union, der Europäischen Rundfunkunion, drei Pflichtrollen erfüllen. Eine ist der sogenannte Assistant Head of Delegation, der war ich. In dieser Funktion habe ich viele koordinierende Tätigkeiten übernommen und zum Beispiel die Zeit mitgestaltet, die die Band vor Ort hatte. Auch was die Inszenierung des Auftritts betrifft, hatte ich ein Mitspracherecht, wenn auch nicht das letzte Wort. Insgesamt war ich elf Tage in Liverpool, immer an der Seite der Band, und so auch ein Ansprechpartner für die BBC oder das Social-Media-Team des ESC. Es passiert da in kürzester Zeit einfach ganz viel. Zum Beispiel treffen die verschiedenen ESC-Acts aufeinander. Da hieß es für mich, schnell mein Smartphone zu zücken und damit Videos für Instagram oder TikTok zu machen. Und bei einer fünfköpfigen Band mit aufwändigen Kostümen gab es immer ein Instrument oder einen Kleidersack zu tragen.

Leidner: Die Probendauer ist begrenzt, einmal 30 Minuten, einmal 20 Minuten, dann muss alles sitzen. Wichtig sind die Proben in erster Linie für die 15 bis 20 Kameraleute und die Regie, um zu überprüfen, ob am Ende alles gut aussieht. Die Band weiß, was sie tut, muss aber natürlich die Bühne kennenlernen, welche Dimensionen sie hat und welche Möglichkeiten sie bietet. Beim finalen Auftritt von Lord of the Lost geht der Sänger zusammen mit dem Gitarristen und dem Bassisten nach vorne. Bei der ersten Probe war das noch nicht so. Wir sind erst auf die Idee gekommen, als wir uns diese gemeinsam angesehen haben. Am Freitag und Samstag gab es dann noch drei Durchlaufproben, einmal ohne Publikum und zweimal mit.
Leidner: Wir waren unter anderem mit einem Bus auf Beatles-Tour und Lord of the Lost sind im Cavern Club, der Geburtsstätte der Beatles, aufgetreten. Morgens um 10 Uhr (lacht), der Club war komplett voll und die Leute standen bis vor die Tür Schlange. Zusammen mit der deutschen Botschaft haben wir außerdem einen Auftritt in einer Schule organisiert. Auch in die Disko, den sogenannten Euro-Club, sind wir mit der Band gegangen. Der Sänger hat sich natürlich meistens geschont, aber der Rest ist gerne abends länger nochmal irgendwo hingegangen. Wir sind dabei auf viele Liverpooler und auf ESC-Fans aus ganz Europa getroffen. Auch ein Treffen mit der früheren ESC-Siegerin Conchita Wurst konnte ich initiieren. Ziel des Ganzen war, dass die Band viel erlebt und viel von der Stadt mitnimmt. Und aus Redakteurssicht gab es so jeden Tag auch etwas Spannendes zu berichten.

Leidner: Ich war tatsächlich ein bisschen verblüfft. Dass es nicht für die Top 10 reichen wird, konnte man anhand der Wettquoten im Vorfeld schon erahnen. Aber wir hatten durch den deutschen Vorentscheid eine Band, die schon einmal die Gunst der Zuschauerinnen und Zuschauer gewonnen hatte. Auch international wurden Lord of the Lost im Vorfeld sehr gut und bunt besprochen. Man hat einen Hauch von Respekt gespürt, dass Deutschland sich traut, etwas anderes zu zeigen. Wir haben unter dem Strich mit ein bisschen mehr gerechnet. Ich bin deswegen schon traurig, aber es wird halt einer Letzter. Allerletzter ist natürlich hart. Es zählt aber auch der Unterhaltungsfaktor, den vier Stunden Show bieten. Die Reichweiten waren fantastisch und wir hatten ein Zuschauerplus. Es freut mich, dass sich so viele Leute für den ESC interessieren.
Leidner: Mit rund 500.000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist Liverpool keine sehr große Stadt, aber das ist für den ESC genau richtig. Man konnte vieles gut zu Fuß erreichen. Unser Hotel und die Arena waren etwa 20 Minuten voneinander entfernt, auf halber Strecke lag das Eurovision Village, die Partymeile der ESC-Fans. Das Wetter war gar nicht typisch britisch, es hat zwar auch mal geregnet, aber wir hatten Glück und viele schöne Sonnentage. Die BBC hat alles super organisiert und die Stadt selbst ist wirklich hübsch und echt spannend. Die Liverpooler sind extrem freundlich und haben einen schönen Humor. Von den elf Tagen, die wir dort waren, war jede Stunde großartig. Bis auf die letzte Stunde, als es einfach zu wenig Punkte für Deutschland gab.
Leidner: Es ist wirklich ein Traum für mich wahr geworden und meine Rolle vor Ort war für mich der absolute Traumjob. Beruflich kann ich jetzt eigentlich nicht mehr mehr erreichen. Die deutsche Vorentscheidung mit auf die Beine zu stellen und dann Teil der ESC-Delegation zu sein, mehr wollte ich nie (lacht). Wäre die eine Stunde in Liverpool nicht gewesen, in der einfach zu wenig Punkte gekommen sind, wäre alles perfekt gewesen. Als mich 1995 der ESC in seinen Bann gezogen hat, wurde Deutschland auch Letzter. Das fand ich nicht schlimm, denn bei dieser Mega-Show steht für mich der "United by Music"-Gedanke so weit vor dem Wettbewerb. (Anm. d. Red.: "United by Music", zu Deutsch: Vereint durch Musik, war das diesjährige Motto des ESC.) Es sind 26 Länder im Finale, es kann nur einer gewinnen. Man muss vor allem Spaß haben. Den habe ich und ich hoffe, die Leute, die den ESC weiterhin gucken, genauso.
