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Haßfurt
Armut und Existenzangst: Wie die Folgen des Ukraine-Krieges ein Jahr nach Ausbruch spürbar werden
Die Haßfurter Tafel arbeitet am Limit, und auch die Caritas spürt eine zunehmende Unsicherheit. Ein Blick auf die Entwicklungen im Landkreis Haßberge.
Helfende Hände der Haßfurter Tafel (von links): Walter Stark, Ute Ulbrich, Magdalena Weisensee, Sigrid Anschütz-Kestler, Edeltraud Baur.
Foto: Lukas Reinhardt | Helfende Hände der Haßfurter Tafel (von links): Walter Stark, Ute Ulbrich, Magdalena Weisensee, Sigrid Anschütz-Kestler, Edeltraud Baur.
Lukas Reinhardt
 |  aktualisiert: 03.03.2023 02:35 Uhr

Es ist ein Donnerstag im Februar. Der Himmel ist wolkenverhangen, die Kälte kriecht durch jede Kleidungsritze. Eigentlich öffnen die Tore der Haßfurter Tafel erst in einer halben Stunde. Punkt 14 Uhr, so sieht es der Plan vor, beginnt die Ausgabe der Lebensmittel. Doch schon jetzt warten Dutzende in den umliegenden Gassen der Altstadt: Mütter und Väter mit ihren Kindern, junge Männer und Frauen, Rentnerinnen, Rentner. Es sind Menschen, die aus der Ukraine, aus Syrien, aus Afghanistan vor Krieg und Verfolgung geflohen sind. Und es sind Deutsche. Was sie eint, ist die Armut. Die Angst vor der Not, dem Hunger.

Drinnen, im engen Tafelladen, packen Helferinnen und Helfer Lebensmittel in Kisten: Nudeln, Wurst, Käse, Joghurt, Obst. Auch hier ist es kalt. "Wir halten uns an das Zwiebelprinzip", sagt Ute Ulbrich, Vorsitzende der Tafel, und stößt einen Lacher aus, der begleitet wird von einer Portion Verzweiflung. Ulbrich, eine resolute 72-Jährige, trägt drei dicke Wollpullover. "Seit Beginn des Krieges heizen wir nicht mehr, außer es ist Dauerfrost", sagt sie und blickt zu ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern. Auch sie tragen Jacken. "Die Kälte setzt uns zusätzlich zu." Zusätzlich deshalb, weil Ulbrichs Team aus Ehrenamtlichen zunehmend an die Belastungsgrenze kommt. Sie alle spüren die Folgen des Krieges in der Ukraine – und das nicht nur aufgrund der tiefen Temperaturen im Tafelladen. "Der Andrang ist enorm", sagt Ulbrich. 

Steigende Armut: Inflation als zusätzlicher Brandbeschleuniger 

Und das liegt nicht nur an den Menschen, die seit Beginn der russischen Aggression vor einem Jahr nach Deutschland geflohen sind. Schon mit dem Coronavirus hat sich die Armut in Deutschland "so rasant ausgebreitet (...) wie noch nie", stellte der Paritätischen Gesamtverband in seinem zuletzt erschienenen Bericht für 2021 fest. Die galoppierende Inflation, steigende Lebensmittelpreise und explodierende Heizkosten wirkten da als zusätzliche Brandbeschleuniger, sagen Soziologen. Im Schnitt lag die Teuerungsrate im Jahr 2022 bei acht Prozent. Ein Umstand, der die Menschen zunehmend in die Arme der rund 960 Tafeln in Deutschland treibt. Wie auch in Haßfurt.

"Zuhause in der kalten Wohnung nimmt sie die Katze auf den Schoß, um sich zu wärmen."
Ute Ulbrich, Vorsitzende Haßfurter Tafel

"Die Armut in unserer Region nimmt zu", sagt Ute Ulbrich. Mit Zahlen belegen kann sie diese Aussage nicht. Wohl aber mit der Erfahrung aus rund 23 Jahren Ehrenamt. Seit 1999 ist Ulbrich aktives Mitglied der Tafel. "Die Menschen kommen auch mit ihren Sorgen zu uns. Es baut sich ein Vertrauensverhältnis auf." Ute Ulbrich berichtet von einer Frau, die inzwischen die Tafel besucht. Eine Rentnerin, die sich in diesem Winter entscheiden müsse, ob sie hungert oder friert. "Zuhause in der kalten Wohnung, so hat sie erzählt, zieht sie sich dick an – und nimmt die Katze auf den Schoß, um sich zu wärmen." Geschichten wie diese hören die Ehrenamtlichen immer häufiger. 

Ute Ulbrich sortiert Lebensmittel, die die Tafel erreicht haben. Die Nachfrage ist 2022 deutlich gestiegen.
Foto: Lukas Reinhardt | Ute Ulbrich sortiert Lebensmittel, die die Tafel erreicht haben. Die Nachfrage ist 2022 deutlich gestiegen.

Haßberg-Card: 365 Menschen erhielten 2022 den Sozialpass

Ein Blick auf Zahlen der Caritas Haßberge bestätigt eine solche Entwicklung zumindest in Teilen: Der Wohlfahrtsverband stellt Einwohnerinnen und Einwohnern mit geringem Einkommen einen Sozialpass aus: die sogenannte Haßberg-Card. Sie muss Jahr für Jahr neu beantragt werden, soll die Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben ermöglichen und berechtigt auch zum Bezug von Lebensmitteln bei der Haßfurter Tafel.

2021 erhielten nach Angaben der Caritas 316 Menschen eine solche Karte. Im vergangenen Jahr stellte der Wohlfahrtsverband 365 Sozialpässe aus, ein Anstieg um 16 Prozent. Hinzu kamen 586 Angehörige, die neben den Karteninhaberinnen und -inhabern darüber mitversorgt werden konnten. Allein mit einer Zunahme der Armut im Haßbergkreis lassen sich diese Zahlen aber nicht erklären. Denn auch Asylsuchende können die Karte beantragen. Von ihnen kamen zuletzt immer mehr im Landkreis an. Geflüchtete aus der Ukraine hingegen, die ebenfalls Lebensmittel von der Tafel beziehen, sind in dieser Statistik nicht berücksichtigt.  

Beratungsgespräche: Zunehmend von Zukunftsangst geprägt

Dass die Krisen der vergangenen Jahre – allen vornweg die Folgen des Krieges – die soziale Schieflage weiter verstärken, zu dem Ergebnis kommen unterschiedliche Untersuchungen. Dabei hatte die Bundesregierung im vergangenen Jahr gigantische Entlastungspakete geschnürt, um den Menschen durch die schwere Zeit zu helfen. Einmalzahlungen, Härtefallfonds, Gaspreisbremse, Strompreisbremse – all das wird den Staat Milliarden kosten. 

Dass die Bevölkerung trotz dieser finanziellen Unterstützung zunehmend verunsichert ist, spüren auch Wohlfahrtsverbände wie die Caritas. Der "Allgemeine Soziale Beratungsdienst" etwa, kurz: ASBD, dient vielen Menschen als zentrale Anlaufstelle für ihre Sorgen und Nöte. Thomas Jakob, Leiter des ASBD, erzählt von den Erfahrungen der vergangenen Wochen und Monate. Davon, dass Gespräche, die seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Betroffenen führten, immer häufiger geprägt seien von Existenz- und Zukunftsängsten. "Letztlich ist unsere Gesellschaft von einer Krise in die nächste gerutscht, von der Pandemie in den Krieg", erklärt Jakob.

"Letztlich ist unsere Gesellschaf von einer Krise in die nächste gerutscht, von der Pandemie in den Krieg."
Thomas Jakob, Leiter Allgemeiner Sozialer Beratungsdienst

Damit scheint nun auch das Ende des Wirtschaftswunders der vergangenen Dekade eingeläutet. Die Preissteigerungen und das maue Konsumklima bremsen in vielen Branchen das Wachstum. Die ökonomischen Unwägbarkeit wiederum befeuert die gesellschaftliche Unsicherheit: "Die Menschen müssen wieder genauer rechnen, bevor sie etwas ausgeben", erklärt Jakob. "Viele machen sich Sorgen, wie es weiter geht." Besonders unter Seniorinnen und Senioren mit kleiner Rente sehe er diese Entwicklung.

Eine Beobachtung, die auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Tafel in Haßfurt machen. Dort, im kleinen Laden, wo sich die Kisten mit Lebensmittel für die Ausgabe stapeln, ist man bereit für den großen Andrang. Ein Andrang, wie ihn die Ehrenamtlichen zuletzt während der großen Fluchtbewegungen 2015 zu spüren bekamen. "Die Herkunft ist uns egal", sagt Ute Ulbrich. "Für uns sind alle gleich, alle Menschen haben Hunger." Die ersten Gesichter blicken durch die Fensterscheibe, schnell wächst die Schlange vor dem Laden. "Wir müssen uns sputen, gleich beginnt die Ausgabe."

Selbst tätig werden

Die Tafel ist als gemeinnütziger Verein auf Unterstützung aus der Gesellschaft angewiesen. Etwa durch eine Mitgliedschaft mit einem entsprechenden Beitrag; durch ehrenamtliche Mitarbeit und Unterstützung beim beim Abholen, Sortieren und Ausgeben der Lebensmittel; durch Geld- oder Sachspenden. Alle wichtigen Informationen finden Interessierte unter: www.hassfurter-tafel.de.  
Auch bei der Caritas Haßberge können sich Menschen engagieren und spenden. Etwa durch die  "Aktion Restcent", eine Abtretung der Lohnzahlungen hinter dem Komma zugunsten eines sozialen Projekts. Alle weiteren Informationen finden künftige Helferinnen und Helfer unter: www.caritas-hassberge.de
Quelle: Tafel Haßfurt/ Caritas Haßberge
 
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  • P. H.
    Wenn Russland die Waffen niederlegen, ist der Krieg zu Ende, wenn die Ukraine sie niederlegen zwar auch, das ist aber auch das Ende der Ukraine - und was dann passiert, s. z.B. Butscha, Irpin ...
    Klar, Reden ist immer besser als schießen, aber zum Reden gehören auch zwei.
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    Frau Wagenknecht und Alice Schwarzer haben letzten Samstag zur Friedensdemo in Berlin geladen. Über 50000 Leute kamen. Aber die Ampelregierung hat dies zum größten Teil schon vorher schlecht geredet. Ohne Friedensverhandlungen wird dieser Krieg nur ewig weiter gehen, wenn es dumm läuft bis zum Atomwaffeneinsatz. Daran schuld sind solche wie Bärbock und Scholz die nur den USA nach rennen. Manchmal glaubt man Corona hat viele auch beim Denken geschädigt.
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  • S. D.
    Daher: Frieden Jetzt.
    Bezahlbare Energie und Strom und wettbewerbsfähig Firmen.
    Grüne raus aus der Regierung. Die ruinieren nicht nur die Armen, sondern auch die Natur mit Frackinggas, Kohleverstromung und Windverschandelung allerorten.
    Alle "Erneuerbaren" produzieren soviel Strom in Deutschland wie 3 Kernkraftwerke.
    Wenn aber Ideologie den technischen Fortschritt und die Wissenschaft ersetzt, heißt es bald: Armut für alle.
    Ich glaube, das wollen die Grünen auch bewusst. ( bis auf sie selber, überhäufig Vielflieger und Großstadtvillenbesitzer )
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