Bisher waren die in Würzburg gelagerten Dokumente über den Exorzismus von Klingenberg tabu. Die Akten im Staatsarchiv und im Diözesanarchiv über den weltweit bekannten „Fall Anneliese Michel“ unterliegen einer Sperrfrist. Fast vier Jahrzehnte nach dem tragischen Tod der epilepsiekranken Pädagogikstudentin, die glaubte, von Dämonen besessen zu sein, gab es eine Ausnahme – eine Sondergenehmigung für die Würzburger Historikerin Dr. Petra Ney-Hellmuth. Sie durfte für ihre Doktorarbeit die vielen Schriftstücke sichten: die Ermittlungsakten der Polizeiinspektion Aschaffenburg, die Akten der Staatsanwaltschaft des Landgerichts Aschaffenburg sowie die Unterlagen im Diözesanarchiv.
Petra Ney-Hellmuth analysiert nüchtern den Fall, der noch immer Emotionen hervorruft, und dies nicht nur in erzkonservativ-religiösen Kreisen. Es ist eine zeitgeschichtliche Aufarbeitung, keine kirchengeschichtliche, betont Petra Ney-Hellmuth. Das heißt jedoch nicht, dass kirchliche Problemstellungen außen vor bleiben.
Erstmals werden in der Doktorarbeit die Stellungnahmen des Würzburger Bischofs zum „Fall Klingenberg“ eingeordnet. Josef Stangl hüllte sich zunächst in Schweigen, als der Tod Anneliese Michels bekannt wurde. Laut Petra Ney-Hellmuth war er von Anfang an über den Verlauf der Teufelsaustreibung durch die Briefe des Salvatorianerpaters Arnold Renz, der ab September 1975 den Großen Exorzismus durchführte, informiert. Auch Pfarrer Ernst Alt, der ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Anneliese Michel hatte, schrieb dem Bischof mehrfach, übermittelte ihm Tonbandmitschnitte der Sitzungen.
Dennoch war Josef Stangl, der den Exorzismus genehmigt hatte, nie selbst in Klingenberg, um sich selbst ein Bild zu machen. Der Bischof war, als der Tod Anneliese Michels Ende Juli publik wurde, in Urlaub und meldete sich erst am 12. August 1976 zu Wort. In der im Würzburger Diözesanblatt veröffentlichten „Erklärung zum Geschehen von Klingenberg“ erläuterte Stangl, dass Exorzismus nichts anderes sei, „als das Gebet der Kirche im Namen Jesu für einen Menschen, der seiner nicht mehr mächtig ist, sich ausgeliefert fühlt, sogar selbst nicht mehr beten kann“. Dieses Gebet würde „selbstverständlich“ medizinische Hilfeleistungen niemals ausschließen. „Für jemanden beten, ihm aber eine Heilbehandlung vorenthalten, ist unchristlich.“ Tatsächlich hatten die Eltern sowie die beiden Geistlichen keine medizinische Hilfe gesucht – angeblich, weil dies der Wunsch Anneliese Michels gewesen sei.
Der Bischof äußerte sich in seiner Erklärung auch über Teufel und Dämonen: „Es ist zu verstehen auf dem Hintergrund der jeweiligen Zeit und aus dem Zusammenhang, in dem es steht.“ Der Satz führte zu Missverständnissen. Zudem habe seine „fortschrittliche Erklärung“ es nicht vermocht, „Kirchenkritiker und liberale Katholiken davon zu überzeugen, dass der Glaube an die Existenz des Teufels und die Wirksamkeit eines Exorzismus' nicht automatisch zu Auswüchsen Klingenbergschen Ausmaßen führen mussten“, so Ney-Hellmuth. „Einigkeit herrschte jedoch in der Ansicht, dass eine Überarbeitung des Exorzismusritus' dringend vonnöten sei.“ Dies wurde auch in einer Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz betont und die Reform kurze Zeit später in die Wege geleitet.
Die Bischofskonferenz und ebenso der Vatikan waren dagegen keineswegs mit dem Vorstoß Stangls einverstanden, „biblische Begrifflichkeiten über das Böse vor dem jeweiligen zeitlichen und kulturellen Hintergrund zu interpretieren“, sagt die Würzburger Wissenschaftlerin. Der Würzburger Bischof bekam diesbezüglich einen Maulkorb. Auf Wunsch der Kirchenführung durfte er sich auch nach der Verurteilung der Eltern Michel sowie der beiden Geistlichen im April 1978 nicht offen zu Wort melden. Dieses laut Ney-Hellmuth „vermeintlich selbst gewählte Schweigen“ wurde bei den Gläubigen mit Unverständnis und Enttäuschung zur Kenntnis genommen. „Exorzismus-Befürworter und -Kritiker beanstandeten Stangls passive Haltung“, sagt Ney-Hellmuth, „es hieß, er habe sich aus der Verantwortung gestohlen und die verurteilten Priester ihrem Schicksal überlassen und zum Sündenbock gemacht“.
Enttäuscht von seinem Bischof war auch Pater Renz, denn Josef Stangl kritisierte in seiner Erklärung die öffentliche Wiedergabe der Tonbandaufnahmen als „bedauerlichen Eingriff in die Intimsphäre“. Dies sei eine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht und verstoße gegen die Anweisungen des Rituale Romanum über den Ablauf des Exorzismus'. Genau das hat Pater Renz getan.
In der ARD-Sendung „Report“ vom 2. August 1976 drückte er vor laufender Kamera auf die Start-Taste seines Kassettenrekorders und ließ die Welt teilhaben an den „dämonischen Botschaften“ Anneliese Michels. Die Hörproben belegen: Der Exorzist hat durch seine Fragen die Antworten der tiefreligiösen Frau beeinflusst. „Sie richten sich an ein Publikum, das die Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils ablehnt.“ Dazu gehört beispielsweise die Handkommunion oder die Zulassung der Muttersprache während des Gottesdienstes, so Ney-Hellmuth. Damit stand Pater Renz Bischof Marcel Lefebvre nahe, dem bekanntesten und 1988 von Johannes Paul II. exkommunizierten Kritiker des Zweiten Vatikanums.
In einem Brief an Renz zeigte sich der Bischof erschüttert: Die öffentliche Preisgabe der Tonbandaufnahmen sei ihm „unbegreiflich“. Renz verteidigte sich postwendend. Die Veröffentlichung sei im Einverständnis mit Annelieses Vater geschehen. „Die Aussagen waren, wenigstens zum größten Teil, grundsätzlich zur Veröffentlichung bestimmt, nicht Privatangelegenheit.“ Und er konterte: Die Erklärung des Bischofs vom 12. August 1976 sei ein erster Sieg Satans – eine Ansicht, die laut Petra Ney-Hellmuth damals viele öffentliche Personen teilten.
Ihren Ausführungen zufolge habe sich der Bischof in der Folgezeit mit dem innerkirchlichen Vorwurf auseinandersetzen müssen, er habe mit seiner Erklärung das Vorhandenseins des Teufels infrage gestellt. Tatsächlich hat sie die damals ohnehin bereits heftig geführten Diskussionen um die Realexistenz des Bösen befeuert. Auslöser dafür waren die Ausführungen des Tübinger Theologen Herbert Haag in seinem 1969 erschienenen Buch „Abschied vom Teufel“.
Eine Aussage darüber, inwieweit Bischof Stangl schuld am Tod Anneliese Michels war, trifft Dr. Petra Ney-Hellmuth nicht. „Das wäre spekulativ“, sagt sie und fügt hinzu: „Letztlich konnte er es niemandem recht machen.“ Noch vor Ende des Prozesses wurde er krank, im November 1978 reichte er in Rom seinen Rücktritt ein, am 8. April 1979 starb der gebürtige Kronacher in Schweinfurt.
Der Fall Anneliese Michel – Chronologie der Ereignisse
Der Exorzismus von Klingenberg sorgte ab Juli 1976 weltweit für Schlagzeilen. Allein die Pressedokumentation im Würzburger Diözesanarchiv umfasst rund 4000 Zeitungsartikel. Auch mehrere Bücher und Filme befassten sich seither mit dem tragischen Tod der Anneliese Michel. Die Pädagogikstudentin wuchs in einer tiefreligiös-konservativen Familie auf. Als Teenager begann sie unter Krämpfen zu leiden. Sie sah „Fratzen“ und glaubte, von Dämonen besessen zu sein. Die medizinische Diagnose lautete: Epilepsie, die sich am Ende zu einer schweren Psychose ausweitete. Michel war nur von 1969 bis 1973 regelmäßig in neurologischer Behandlung.
Der Bischof von Würzburg, Josef Stangl, wurde im Sommer 1975 von Pfarrer Ernst Alt (damals Ettleben/Werneck) um Erlaubnis zum Großen Exorzismus gebeten. Nach einem Gutachten des Jesuitenpaters Adolf Rodewyk, der als Exorzismusexperte galt und von der Besessenheit Anneliese Michels überzeugt war, genehmigte Bischof Stangl im September 1975 die Teufelsaustreibung. Mit der Durchführung wurde der Salvatorianerpater Adolf Renz (Rück-Schippach) betraut.
67 Teufelsaustreibungen wurden an Anneliese Michel durchgeführt – ohne gleichzeitige medizinische Betreuung. Sie starb am 1. Juli 1976 an extremer Unterernährung. Der Hausarzt stellte wegen des erschreckenden körperlichen Zustands des Leichnams keinen Totenschein aus. Die Staatsanwaltschaft in Aschaffenburg ordnete eine Obduktion an.
Im Frühjahr 1978 begann der Prozess. Kurz zuvor ließen Anneliese Michels Eltern ihren Leichnam exhumieren, um ihn in einen Eichensarg umzubetten. Eigentlicher Grund dafür war jedoch die Vision einer Nonne, nach der Annelieses Leichnam unverwest und dies ein Beweis für ihre göttliche Auserwähltheit sei – was sich jedoch bei der Leichenschau nicht bestätigt hat.
Angeklagt waren die Eltern und die am Exorzismus beteiligten Geistlichen. Sie wurden wegen fahrlässiger Tötung zu einer sechsmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Bis heute sind Spekulationen über die Todesumstände der 23-Jährigen sowie ihre „dämonischen Botschaften“ in erzkonservativen Kreisen in Umlauf. Text: cj
Beste Grüße
Multimedia-Redaktion
Wie gut, dass Dr. Petra Ney-Hellmuth sich des Falles Michel/Stangl noch einmal angenommen hat. Kirche und Wissenschaftler waren, dem Urteil der Historikerin folgend, in ihren Beurteilungen nicht objektiv. Nach ihrer Annsicht sei Bischof Stangl unschuldig, er habe es halt jedem Recht machen wollen. Offensichtlich aber hat sein Gewissen nicht normal funktioniert, weil ihm der Teufelsglaube wichtiger war als die Gesundung der ihm anvertrauten Person. Gemäß dem peinlichen Dogma von der Existenz des Teufels konnte er sich seiner menschlich gebotenen Verantwortung dank des vatikanischen Schweigegebotes leicht entziehen. Niemals wurde er wie die Eltern und die Exorzisten angeklagt. Insofern fragt man sich, ob die Historikerin in der Bewertung von Stangls Verantwortung wirklich Neues zu Tage gebracht hat, was auch künftig zur Verhinderung menschenverachtender Exorzismen beiträgt. Indem sie Aussagen lebender Zeitzeugen nicht berücksichtigt, wird ihr Vorgehen ebenso fragwür